Der denaturierte Mensch und sein Herr

In dem nachstehenden Essay geht es um die Glaubenssätze, die unsere Kultur formen und zunehmend belasten. „Wir glauben an Freiheit durch Vorsprung und Vorsprung durch Technik“, heißt es im Text. Außerdem glauben wir natürlich an die unendliche Optimierbarkeit unserer Lebenswelt durch Wissenschaft und Design.Gegen diesen modernen Glauben muss ein Bekenntnis zur Natur des Menschen allein schon wegen der erdrückenden Dominanz konstruktivistischer Erkenntnistheorien hoffnungslos altbacken wirken. Dennoch habe ich versucht, die Natur als Vorbild und Maßstab glücklicher Humanität zu rehabilitieren. Das ist nicht ganz leicht. Und ich kann nicht behaupten, dass es mir gelungen wäre. Der Gedankengang bricht unvermittelt ab. Vieles ist nur angepiekst, nicht ausgearbeitet. Viele Kapitel fehlen. Und ohnehin nützt wohl alles Argumentieren wenig, solange der bürgerliche Markt-Glaube den öffentlichen Diskurs und damit unsere Gedankenwelt totalitär beherrscht. Heute berührt uns die „Empfindung der ursprünglichen Freiheit“ (Rousseau) als etwas märchenhaft Fremdes, ja, als etwas Unangenehmes und Unerlaubtes. Andererseits wächst die Sorge.

 

1. Einleitung

„Die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist.“ Albert Camus

 1.1 Landschaften des Geistes
Die Natur ist die Natur, und damit wäre bereits alles gesagt, schaute nicht jeder sie anders an und sähe mithin nicht jeder etwas anderes in ihr. Ich habe eine schöne Landschaft vor Augen, du vielleicht ein bemoostes Depot voller Ressourcen. Oder einen schlecht isolierten Bakterienherd. Oder die gefletschten Sägezähne einer Aktienkurve. Ingenieure bewundern die Natur als Mutter aller Maschinen, Produzenten machen sie zur Sklavin ihrer Profitinteressen, Marketingleute stilisieren sie zum Schlaraffenland notgeiler Konsumenten. Ein religiöser Mensch kann sie als Schöpfung Gottes bewundern oder als Werk eines teuflischen Demiurgen verdammen. Manch ein Naturschützer möchte sie wahrscheinlich am liebsten ins Museum stellen, manch ein Artist würde sie gewiss am liebsten abschaffen. Wer sie als das Wirkliche schlechthin begreift, entgeht ihr nie. Wer sie dagegen mit Kultur, Geist, Technik oder Geschichte kontrastiert, setzt sich von ihr ab, um sie besser lieben oder leichter hassen zu können. Naturwissenschaftler? Sie schürfen unter der Oberfläche der Erscheinungen und fördern Gesetze zu Tage, die sie für die eigentliche Natur ausgeben. Philosophen, einst ihre Entdecker, scheinen sie inzwischen ganz abgeschrieben zu haben.

1.2 Ketten und Blumenkränze
Gegen ein Denken, das die Natur als klar von anderen Seinsbereichen abgrenzbare Einheit oder Ganzheit begreift, wendet sich beispielsweise der an der ETH Zürich lehrende Philosoph Michael Hampe. „Die Natur gibt es nicht“, lautet das Fazit seiner Überlegungen, das er sowohl den gewissenlosen Ausbeutern als auch den gutwilligen Wächtern natürlicher Ressourcen vorhält. Ideologische Voreingenommenheit trübe die Urteilsfähigkeit auf beiden Seiten. Früher habe die Natur-Ideologie überall „zu beherrschendes Material oder grausame Konkurrenz“ gesehen, heute sei eher die Rede von „Gleichgewichten, Zirkulationen und Ganzheiten auf der einen und menschlichen Störern, die naturale Selbstorganisationen behindern, auf der anderen Seite“.

In beiden Fällen begreife sich der Mensch als ein Wesen, das einer als Ganzheit imaginierten Natur gegenübersteht, was den Tatsachen zuwiderlaufe und daher eine irreführende Abstraktion sei. Vielmehr seien wir auch als Vernunftwesen so fest in natürliche Zusammenhänge eingebunden, dass eine Loslösung nur unter Verzicht auf Wahrhaftigkeit vollzogen werden könne. Zwar seien die Sphären von Wissenschaft, Politik, Moral und Natur aufgrund fortschreitender Arbeitsteilung im Verlauf der Geschichte auseinander getreten, doch „Arbeitsteilungen teilen nicht (wie die Konstruktivisten irrtümlich glauben) die Wirklichkeit selbst“. Die Gravitation als wissenschaftlich fassbares Phänomen sei eine Sache, die Angst des Ochsen vor dem Bolzenschussgerät eine andere, aber beides sei natürlich – und das eine nicht minder bedeutsam als das andere. Der Mensch habe es es mit „hybriden Wirklichkeiten“ zu tun, sogar mit selbstständigen Wirklichkeiten. Er könne sich zwar leicht einreden, dass er als allmächtiges und allverantwortliches Wesen kraft seiner Vernunft dazu bestellt sei, über alles Nichtmenschliche zu verfügen, sei es schützend oder verbrauchend, aber ein zwingendes Argument für diese Ermächtigung gebe es in Wahrheit nicht. „Jede Katastrophe, wie auch jüngst die von Fukushima, die sowohl als natürliche wie auch als politische einzustufen ist, belegt die Falschheit dieser Einschätzung“.

Gerade weil Natürliches sowieso überall hineinspielt und mitmischt, lassen sich daraus keine Maximen für gesellschaftliches Handeln ableiten. „Wir können uns an der Natur nicht orientieren“, sagt Michael Hampe. „Menschliche Gruppen müssen selbst, ohne natürliche oder göttliche Transzendenz, entscheiden, wie sie leben wollen.“

Ist es so? Können wir aufbrechen, wohin wir wollen? Hampes pragmatischer Kulturalismus verliert meine Sympathie, wo er sich von der Kritik verabschiedet und schulmeisterlich wird. Fast scheint es, als drifte der Philosoph nun selbst ab ins Weltanschauliche. Erregt nicht schon seine Wortwahl diesen Verdacht? Das herrische, Widerspruch nicht duldende „Müssen“. Das „Wollen“ mit seiner zwischen Freiheit und Getriebenheit oszillierenden Unschärfe. Wer kann wollen? Wer darf wollen? Wer muss wollen? Wie frei sind die Entscheidungen? – Je tiefer man in diese Worte hineinhorcht, desto vernehmlicher klingt das „Müssen“ nach ewiger Effizienzsteigerung und das „Wollen“ nach Zerstreuung, Hedonismus und Konsum. Birgt die geistvolle Absage an die Natur im Kern nichts anderes als brutalsüße bürgerliche Ideologie?

Selbstverständlich meint Michael Hampe es nicht so. Er kann der Markt-Ideologie so wenig abgewinnen wie der Natur-Ideologie.  Solange jedoch diese Weltanschauungen ihre Gültigkeit als Ausdruck realer Lebensformen behielten, gibt der Philosoph zu bedenken, bleibe einem nicht viel anderes übrig als Wissenschaft, Literatur und Künste wegen ihrer Differenzierungs­fähigkeit zu loben und ansonsten auf bessere Zeiten zu warten. Wenn er es denn täte! Aber er kann es sich nicht verkneifen, eine tief verunsicherte, jedoch von neuen Fortschritts-Ideologien schon halb verführte Zivilisation auch noch dogmatisch darin zu bestärken, sich den Verlockungen des „Wollens“ und „Müssens“ zu ergeben und damit die Herrschaft von Gier und Trägheit zu perpetuieren.

Was ist von einer Intellektualität zu halten, die in „Erzählungen“ schwelgt und die Wirklichkeit dem freien Spiel der Kräfte zur Formierung überlässt? Ein berühmtes Bild kommt mir in den Sinn, Rousseaus Bild von den Blumenkränzen: „Während die Regierung und die Gesetze über die Sicherheit und die Wohlfahrt der Menschen wachen, breiten die Wissenschaften, die Literatur und die Künste (…) über die ihnen angelegten Ketten Blumenkränze aus, ersticken bei ihnen die Empfindung der ursprünglichen Freiheit, um deretwillen sie doch geboren zu sein schienen, lassen sie ihre Sklaverei lieben und bilden aus ihnen, was man gesittete Völker nennt.“

1.3 Ein Gegenbegriff zur Geschichte
Bekanntlich hat die „Empfindung der ursprünglichen Freiheit“ Geschichte gemacht. Ihr Mythos befeuerte Revolutionen, entfachte Kriege, brachte Nationen und Klassen erst hervor und dann gegeneinander auf, spaltete die Welt, hielt ganze Generationen von jugendbewegten Rebellen in Atem. In jedem Protestlied klang dieser Mythos an, er war die Essenz jedes Einspruchs gegen die Zumutungen der Industrialisierung und elektrisierte im „Zeitalter der Ideologien“ (von dem wir annehmen, es sei abgestorben, nur weil es totgesagt wurde) jeden Parteigänger. Heute spüren wir kaum noch einen Hauch dieser weltbewegenden Empfindung. „Ursprüngliche Freiheit“? Wir glauben an Freiheit durch Vorspung und Vorsprung durch Technik, an Freihandel und freies Internet. Jedenfalls sagen wir das, wenn jemand fragt, was allerdings immer seltener geschieht. Denn den meisten Zeitgenossen dürfte das Regime, das Günther Anders bereits 1958 den „Zustand der bequemen Unfreiheit“ genannt hat, längst als Neuer Naturzustand in Fleisch und Blut übergegangen sein. Was der Autor der Antiquiertheit des Menschen  damals in Bezug auf die „flüssigen“ Produkte von Radio, Fernsehen und Reklame gesagt hat, gilt heute für die Adressaten jeder Art von Wissensvermittlung und content management: „Wem die präparierte Welt in flüssigem Zustand durch die Kehle fließt, wer nicht mehr zu schlucken braucht, der ist bereits so tief chloroformiert, dass keine Empfindung von Unfreiheit mehr in ihm aufsteigt.“

Allerdings macht die perfektionierte Betäubungskunst dieser Tage nicht nur schöne Träume. Sie hat eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen.

Die Sorge um die natürlichen Ressourcen greift um sich, und sie speist sich nicht allein aus den bösen Nachrichten vom Versiegen fossiler Energiequellen, vom Verschwinden der Regenwälder oder von der Ökonomisierung der gesamten Flora und Fauna dieses Planeten, nein, sie schaut längst mit bangem Blick auch auf das Trinkwasser, auf die Atemluft, auf das Sonnenlicht. Das Notwendigste, Ursprünglichste, Verbindlichste, die nicht hinterfragbaren Gegebenheiten des Lebens, sie scheinen plötzlich in Frage zu stehen. Und trotz aller Versicherungen von Seiten der werbetreibenden Wissenschaft, wir lebten gesünder als je zuvor, steigt der Pegel der Verunsicherung von Jahr zu Jahr. Die mit psychologischen Weichmachern versetzte Industrienahrung, die belastete, verunstaltete Umwelt, die überflüssige Arbeit, die bedrängte Familie, die verkaufte Kindheit, das verleugnete Alter, die drückende Gegenwart des Todes im ganzen Leben: high water everywhere!

Welch schockierende Wendung in der Geschichte des Todes! Wer gedacht hatte, wir steuerten auf ihr Ende zu, muss angesichts der wie schwere Träume aufziehenden Wolken ins Zweifeln geraten. Zwar können Ärzte heute ohne weiteres Leben erzeugen, zwar halten sie todgeweihte Frühchen und moribunde Greise fast nach Belieben im Leben fest, zwar steigt die durchschnittliche Lebenserwartung, zwar verheißen Forscher bereits ewiges Leben, aber die Überdehnung der Fronten hat ihren Preis: Ein totalitäres Gesundheitssystem zwingt seinen Subjekten mit sublimster Propaganda und unter Androhung schärfster Sanktionen eine durch und durch kontrollierte Existenz auf. In der Folge legen sich Ängstlichkeit, Selbsthass, Missgunst und engherziges Controllertum wie Schatten selbst über blühendes Leben, das zwar weiterhin Früchte tragen mag, aber nur noch solche, die dem weltweit durchgesetzten, demokratisch legitimierten Industriestandard entsprechen. Das vollständig denaturierte Leben, das ganz und gar verkopfte, allseits gestützte, in jeder Hinsicht gelenkte Dasein, dem wir fröhlich entgegenstreben, ist eine mit Freiheitskokarden und grünen Girlanden getarnte tödliche Falle.

Natürlich sehen wir uns ganz anders. Nicht als Labormäuschen transhumanistischer mad scientists. Nicht als fashion victims einer Moderne, die ihr auf Funktionalitäten reduziertes Modell des Lebens seit hundert Jahren als Dernier Cri der Vernunft verkauft. Das amtliche Porträt zeittypischer Befindlichkeiten zeigt eine Party bestens versorgter, dabei hellwacher, kritischer und quirliger Optimisten, in deren aufgekratzten Gesichtern sich freilich nicht nur die Lust am entsorgten Dasein, sondern auch der Frust des durchsorgten Lebens spiegelt. Wenn wir genau hinschauen und wahrhaftig sind, müssen wir uns als Nachkommen erblicken, als Großkinder, die bis ins hohe Alter an der unsichtbaren Hand des Marktes durch dekorierte Räume geführt werden.

Der Markt hat die Natur als universelles Begründungssystem abgelöst. Der Satz „Es verkauft sich gut“ klingt heute kräftiger, bodenständiger und wahrhaftiger als die Aussagen „Es blüht“ oder „Es lebt“. Wir sehen in Blumen, Hühnern, Landschaften und Menschen in erster Linie Produkte, die es zu gestalten, zu vermarkten oder zu entsorgen gilt, und erst in zweiter Linie „Wesen“ in ihren naturalen Zusammenhängen.

Wen diese Ansicht krank macht, wen die Tyrannei des Marktes bedrückt, wer sich vor allem von seiner unabweisbaren Mitgift, der lastenden Sorge, befreien will, muss sich nach alternativen Gründen (Prinzipien, Weidegründe) umschauen. Die Wissenschaften, die Literatur und die Künste kommen dafür kaum in Fage, weil sie entweder weiterhin in zunehmend stupider Manier Blumenkränze flechten oder, wenn sie sich ganz ungeniert als Impulsgeber der Marktentwicklung begreifen und betätigen, inzwischen selbst zu den Mächten gerechnet werden müssen, die die Ketten schmieden.

Die Religion ist ein solcher Grund: „Der Herr ist mein Hirte, mit wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“  Jede historische Religion, wie erbärmlich sie sich in der Gegenwart auch präsentieren mag, birgt in ihrem Kern sowohl eine grundlegende Fassung der Natur als auch ein Mittel zu ihrer Transzendenz. Wir werden auf religiöse Prinzipien und ihre Heilswege immer dann zurückkommen müssen, wenn das Leitprinzip „Natur“ zu nichts anderem führt als zu noch mehr Gefräßigkeit, Effizienz und Sorge. Andererseits sind historische Religionen derart kontaminiert mit Aberglauben, dass wir gut daran tun, ihre Gefilde zu meiden, solange es irgend geht.

Was bleibt nun demjenigen, der die „ursprüngliche Freiheit“ zwar nicht mehr empfindet, aber eine Ahnung davon im Herzen bewahrt hat? Kann man das Kaufen verlernen und trotzdem ohne Sorge leben? Ist es überhaupt möglich, sich von der Geschichte abzusetzen?

Ein einfaches „Zurück zur Natur“ kann es nicht geben. Die sterilen Abstraktionen, die sich die Natur als Wald zurechtmachen, durch den nie ein Förster streift und Bäume zum Fällen kennzeichnet, begründen nichts weiter als eine kitschige Ideologie. Natur begegnet uns als ein mit Kultur durchwachsenes Mischwesen, da hat Michael Hampe vollkommen recht. Aber sind Mischlinge nicht meistens die schönsten und liebenswertesten Geschöpfe der Welt?

„Für meine Frau kam nur eine Hausgeburt in Frage“, sagt Roland K. (54). „Letztlich mussten wir uns dann aber doch in die Klinik begeben, weil nach dem Platzen der Fruchtblase die Wehen nicht gescheit einsetzten. Dort haben wir es hinbekommen, meine Frau, meine Tochter und ich. Mit Hilfe der wunderbaren Hebamme, einer netten Schwester und einer resoluten Ärztin. Und mit Hilfe einer so genannten Saugglocke. Trotzdem war es ein gewaltiges Naturereignis, das können Sie mir glauben.“

„Ob ich je mit unberührter Natur in Kontakt gekommen bin?“ Werner Z. (60) kratzt sich den kahlen Schädel. „Spontan fallen mir die Alpen ein. Die Hochgebirgswanderung, die ich vor Jahrzehnten mit zwei Freunden unternommen habe. Ein paar Eindrücke haben sich mir ganz tief eingeprägt. Das Bild einer Gletscherwand zum Beispiel. Das graugrüne, schartige Eisriff in unzugänglicher Ferne, von dem gerade eine riesige Scholle abbricht und mit Getöse in eine fürchterlich dunkle Senke stürzt. Für mich ist es ein Bild absoluter Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit. Nein, mir ist die berührte Natur immer lieber gewesen. Hinter meinem Haus beginnt der Wald. Dort gibt es Plätze, die ich schon als Kind geliebt habe und heute immer noch liebe. Die Holzbank, die Lehrer Schneider vor vielen Jahren auf einer Lichtung errichtet hat, ist solch ein Platz. Man übersieht das ganze Tal von dort aus. Und ich habe das Gefühl, es sei dort immer angenehm warm. Je älter ich werde, desto größer wird meine Achtung vor diesem Naturfreund.“

„Der gebildete Mensch“, sagt Friedrich Schiller, „macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt.“

Die Natur ist gegenwärtig und konkret. Sie badet uns in Licht und Luft, sie schickt Regen, sie schenkt Brot. Wir sind aus ihrem Stoff gewirkt, ein Leben lang aufs engste mit ihr verknüpft, überhaupt nur insofern von ihr unterschieden, als wir uns einbilden können, es zu sein. Sie ist die Schönste. Die einzig Wahre. Und Quell des Guten soll sie nicht sein? Das glaube, wer will. Ich denke, auch als moralische Wesen haben wir die Natur bitter nötig. Wir brauchen sie als Gegenbegriff zur Geschichte. Als Gegengewicht zu den Fliehkräften des Fortschritts. Als Gegenentwurf zur bürgerlichen Ideologie der Freiheit. Wir brauchen sie zur Orientierung, um heim zu finden im Meer der Möglichkeiten. Wir brauchen sie zur Ermunterung, um zu werden, was wir sind. Wir brauchen sie zur Inspiration, zur Erbauung, zum Trost und zur Freude, als Regulativ und Korrektiv in jeder Lebenslage.

Dass solch ein empathischer Naturalismus nur ein kulturgezeugter Bastard sein kann, steht außer Frage. Ebenso sicher scheint es mir aber auch, dass er allein den nun wirklich reinrassigen Naturalismus der Gier und der Trägheit bändigen kann, der die menschlichen Institutionen umso unangefochtener beherrscht, als die Kultur ihn offiziell für gezähmt oder gar nützlich erklärt.

Wir brauchen die Natur als Gegenkraft zur Natur. Das ist die paradoxe Botschaft dieses Versuchs.

2. Natur und Geschichte  oder Jenseits von Wahrheit und Lüge

2.1 Natur ist selbstverständlich
Natürlich? Kein Wort geht einem leichter über die Lippen, keines ist schwerer zu fassen, eben weil es bezeichnet, was sich von selbst versteht. Manchmal verwenden wir es tatsächlich in diesem Sinne. Wer etwa die Frage „Kommst du heute abend?“ nicht einfach mit „Ja“ beantwortet, sondern (ohne ironischen Unterton) „Natürlich“ sagt, verweist sozusagen auf die Evidenz kosmischer Naturvorgänge, um jeden Zweifel an der Wahrhaftigkeit seines Vorsatzes zu zerstreuen. In einem Satz wie „Natürlich müssen wir alle sterben“ ist das Wort eigentlich schon überflüssig, dient aber immerhin noch der Bekräftigung einer Aussage, die auch für wahr genommen würde, wenn es fehlte. In einer Formulierung wie „Natürlich brauchst du acht Stunden Schlaf“ dreht es sich schon nicht mehr um eine schlichte Wahrheit, sondern eher um eine Einstellung, die durch das Adjektiv „natürlich“ als die einzig wahre gekennzeichnet werden soll. Als Scheinargument für eine Behauptung, die Allgemeingültigkeit beansprucht, sich jedoch bestenfalls auf eine Reihe von Erfahrungen stützt, fungiert das Wort in dem Satz „Natürlich sind Männer stärker als Frauen“. Und in der Aussage „Natürlich geht die Welt unter“ steht „natürlich“ sozusagen nur noch für den Brustton der Überzeugung, mit dem eine Meinung dargeboten wird.

Die Beispiele zeigen, dass wir uns auf schlüpfrigem Grund bewegen, sobald wir Natürlichkeit argumentativ ins Spiel bringen. Umgekehrt vermitteln sie vielleicht eine Ahnung davon, welch hohen Stellenwert die Natur seit jeher besitzt, wenn es gilt, das Meinen und Scheinen des diskursiven Geplappers auf einen sicheren Grund zurückzuführen.

2.2. Geschichte als Umwandlung von Natur
Man könnte nun denken, Natürlichkeit sei das Universalargument der schlichten Gemüter. Aber das stimmt nicht. Eher sind es die Meister des Diskurses, die sprachmächtigen Auguren und Agenten aus Marketing, Werbung, Presse, Kunst und Wissenschaft, die sich des Erklärungsprinzips bedienen (was natürlich auch darauf hindeuten könnte, dass „Philologen“ schlichte Gemüter sind). Roland Barthes hat bereits 1957 in „Mythen des Alltags“ auf diesen Umstand hingewiesen. Unaufhörlich drückten Presse und Kunst der geschichtlichen Wirklichkeit einen Stempel von „Natürlichkeit“ auf, klagte er und schrieb: „Die bürgerliche Klasse hat ihre Macht auf dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt aufgebaut, auf einer unbegrenzten Umwandlung der Natur; die bürgerliche Ideologie stellt eine unveränderliche Natur wieder her.“ Barthes deutete die ideologische Praxis, ambivalente Zeitzeugnisse in bündige, suggestive, scheinbar selbstverständliche Botschaften umzuwandeln, als moderne Form von Mythenbildung. Aktuelle Beispiele für diese Methode der Naturalisierung finden sich nicht nur in der Werbung mit ihrem Kult der „Cerealien“, der „rechtsdrehenden Milchsäure-Moleküle“ oder der „green technologies“, sondern naturgemäß in allen Feldern der Kultur. „Der mächtigste Mann der Welt“ ist ebenso ein Mythos wie „Putin“ oder „das Internet“. Nach wie vor betreiben Kulturschaffende unter dem Vorwand, das „komplexe“ Weltgeschehen lasse sich eben nur in simplifizierter Form kommunizieren, ideologischen Missbrauch mit dem Selbstverständlichen.

Genau genommen versteht sich natürlich gar nichts von selbst. Beim Verstehen fallen Objekt und Subjekt auseinander, allenfalls ist etwas für jemanden verständlich. Wenn Ich etwas verstehen will: den Pythagoras, die Harmonielehre, meinen Dosenöffner, den Krieg, das Weltgeschehen, mich selbst, muss Ich es objektivieren, von mir selbst abrücken, zu einer Sache machen. Ich muss das tun, um es zu verstehen. Allerdings kann ich mich zu einem intelligiblen Objekt auch anders verhalten. Ich muss es ja nicht verstehen, ich kann es auch sein lassen. Nicht selten ist das sogar die intelligentere Wahl. Denn im Unterschied zum Verstand, der aufs Verstehen jedes habhaft gemachten Gegenstandes programmiert ist, rät die Vernunft oftmals dazu, sich eines Gegenstandes erst gar nicht habhaft zu machen, ihn nicht herauszulösen aus seinen Bezügen, sondern ihn im Ganzen allenfalls zu betrachten. Wer eine Pflanze dauernd umtopft, dem verwelkt sie. Wer einen Menschen verbiegt, kann ihn brechen. Wer sich selbst fortwährend in Frage stellt, verzweifelt am Ende. Fremdem erst einmal mit Toleranz zu begegnen, ist allemal intelligenter als vorschnelle Abwehr oder Aneignung. Das Unsagbare vorläufig „Gott“ zu nennen, scheint mir immer noch vernünftiger, als die Herrschaft des Logos ein für allemal zu besiegeln. Die Natur mit Liebe, Demut und Ironie als natürlich, also selbstverständlich anzusehen, scheint mir weiser, als dem Verstand in jeder Hinsicht das Feld zu überlassen.

„Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinn, bei dem alles Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht“, sagt Nietzsche und weist darauf hin, dass nur derjenige zum Handeln überhaupt fähig ist, der vergessen kann. Ein Zuviel an Erinnerung führt zum Stillstand. Führt ein Zuviel an Neugier zum Zusammenbruch? Übertreiben wir es mit der Geschichte, nicht nur, indem wir zuviel darüber nachsinnen, sondern indem wir zuviel davon machen? Ist die aggressive Weltbefragung, in die wir uns bis zur Atemlosigkeit hineingesteigert haben, so unzuträglich für eine lebendige Kultur wie es die fortwährende Selbstbefragung für ein Individuum ist? Stellen wir zu viele Fragen? Liegen bereits zufrieden stellende, d.h. unerschöpfliche Antworten vor, die wir übersehen hätten? Betreiben Kulturschaffende, wir alle also, ideologischen Missbrauch mit dem Fraglichen?

2.3 Natur ist mystisch
In unserer säkularen Welt ist naturgemäß erst einmal alles fraglich. Sonne, Mond und Sterne. Die Gene, das Atom, der freie Wille. Mann und Frau, das Kinderkriegen, sogar der Tod. Alles ist fraglich – allerdings nicht rund um die Uhr. Kein Astrophysiker betrachtet den Sternenhimmel ununterbrochen als Problemfeld. Keine Feministin bedenkt andauernd die großen, gesellschaftlichen Folgen des kleinen biologischen Unterschieds zwischen den Geschlechtern. Kein Genetiker, der den Tod zwischen Molekülen sucht, starrt pausenlos durchs Mikroskop. Zwischendurch gehen die Leute spazieren oder schwimmen, sie hocken am Strand und schauen aufs Meer. Sie schlafen. Sie zeugen Kinder und gebären sie. Sie werden krank und wieder gesund. Sie leben, sie sterben. Manches haben sie bewusst erlebt, das allermeiste haben sie zwar gesehen, gehört und gespürt, aber nicht wahrgenommen. Und während im bewussten Erleben vieles fraglich erscheinen mochte, stand im unbewussten Leben naturgemäß wenig oder überhaupt nichts in Frage. Es ist eine alltägliche Erfahrung: Telefoniere ich mit der Freundin, ist das technische Übertragungsmedium für uns beide eine Gegebenheit wie die Luft, die wir atmen. Gehe ich singend eine Treppe hinunter, besteht an den Stufen kein Zweifel. Schlafe ich, bin ich aller Probleme ledig. Anders gesagt: Auf der Ebene der Physis werden zwar ununterbrochen Weichen, aber niemals Fragen gestellt, weil nirgendwo ein Subjekt auszumachen ist, das sich eines Objekts habhaft machen könnte. Zu sagen, hier vollziehe und verstehe sich tatsächlich alles von selbst, wäre zwar auch wieder nur eine Redensart. Aber selbst wenn kein Zweifel daran bestehen kann, dass vielerlei kulturelle Instanzen jederzeit in die unbewussten Abläufe eingreifen, um sie mehr oder weniger planvoll in diese oder jene Richtung zu zwingen (Medikamente, Genmanipulation, chirurgische Eingriffe, jede Art von Konditionierung, Züchtung oder Design), finden wir im Reich der Physis insofern eine unverstellte Wirklichkeit vor, als dort keine Sprache gesprochen und verstanden wird – noch nicht einmal die Sprache der Mathematik. Dort herrscht der Naturzustand in Permanenz, von dem Rousseau sagte, dass es ihn „nicht mehr gibt, vielleicht nie gegeben hat und vielleicht nie geben wird, über den man aber dennoch rechte Begriffe nötig hat, um den jetzigen Zustand richtig beurteilen zu können“.

Nicht selten schlägt kulturgeprägtes Verhalten bei vollstem Bewusstsein in natürliches Leben um. Wer sich etwa in einen Wald hineinbegibt, mag vielleicht zunächst einmal nach Pilzen, Holzbeständen oder auch Nymphen Ausschau halten, mag seinen Blick auf diese oder jene Besonderheit richten und seine Entdeckungen machen, aber wenn er den Wald als solchen liebt, wird unweigerlich irgendwann der Augenblick kommen, da er sich in diesem erstaunlichen Labyrinth der Farben, Töne, Gerüche und Geschmäcker verliert. Es gibt dann kein Subjekt mehr, das den Wald hinterfragen, verstehen oder auch nur betrachten könnte, weil das Subjekt sich in seiner Mitwelt gleichsam aufgelöst hat. Man kann das Mystik nennen und religiös überhöhen. Aber im Grunde ereignet es sich jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde. Es ereignet sich, wenn ein spielendes Kind alles um sich herum vergisst, wenn Tänzer mit der Musik eins werden, wenn ein schaffender Mensch in seiner „Materie“ aufgeht. Und wenn es geschieht, gleich ob auf dem Land oder im Dschungel der Großstadt, dann sind wir in der Natur.

2.4 Natur ist unzerstörbar
Die Natur nimmt keinen Schaden durch künstliche Eingriffe. Es ist zwar nicht schön, Landschaften durch Zersiedlung zu verschandeln oder Gift ins Meer zu kippen. Es ist furchtbar, Tiere zu foltern und die halbe Menschheit zu versklaven und auszuhungern. Aber die Natur juckt es nicht. Sie trägt ihr angestammtes, wunderbar duftiges Blätterkleid mit demselben Gleichmut wie den Catsuit aus Beton. Ihr Reich steht Gutmenschen und Massenmördern gleichermaßen offen. Weil der Eintritt an keinerlei Bedingung ästhetischer oder ethischer Art gebunden ist, braucht es nicht mehr als ein bisschen Lebenslust und genug Luft zum Atmen, um die Tür aufzustoßen. Die Natur wartet in einem mit Elektro-Beats gefüllten Bunker auf dich. Im Schlafsarg kurz vorm Jupiter. In jedem Winkel, in dem es sich gerade noch aushalten lässt. Und danach? „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!“ (Bertolt Brecht). Der Tod der Natur braucht uns nicht zu kümmern. Aber das kümmerliche Leben in einer denaturierten Natur.

3. Natur und Wissen oder Durchsorgtes Leben

3.1. Wissenschaft und Technik im Sog des Utilitarismus
Die Umwandlung von Natur in Geschichte ist kein magischer Vorgang. Sie setzt Wissen (eidos) und Können (technê) voraus, erfolgt aber genau genommen erst im Zuge der gesellschaftlichen Nutzung theoretischer und praktischer Erkenntnis. Die Vorstellung reiner, ungenutzter Erkenntnis ist alles andere als absurd, verlor aber seit Beginn des bürgerlichen Zeitalters immer mehr an Anziehungskraft und erscheint heute den allermeisten schlicht als abwegig und asozial. Umgekehrt halten die allermeisten Zeitgenossen es für ausgemacht, dass Wissenschaft und Technik einzig dazu da sind, jedes Elementarteilchen und jedes neuronale Fünkchen nutzbar zu machen. So uneinig sich Sozialisten, Marktliberale, Grüne und Konservative in Fragen der Nutzungszwecke auch sein mögen: In der Ideologie des grenzenlosen Utilitarismus stimmen sie vollkomen überein. Deshalb haftet dem Streit über die ethische Verantwortung von Wissenschaft und Technik, die notwendig auf eine Begrenzung der Anwendungen zielt, stets etwas Verlogenes an. Letztlich soll alles ohne Einschränkung erlaubt sein, weil alles theoretisch auch zum „Guten“ genutzt werden kann. Und so erheben sich allmorgendlich die Wohlgesinnten, um den Tag gemäß der Devise Carpe Diem zu nutzen (die Losung zielt eher auf „Dolce Vita“ als auf „Lebensleistung“, aber der protestantische Norden hat zur Zeit nun mal mit der wirtschaftlichen Power auch die Definitionsmacht über das kulturelle Erbe des Mittelmeerraums). „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran!“:  Vor Jahrzehnten, bei den Fehlfarben, klang das bitter ironisch. Heute ist es „Guten“ wie „Bösen“ bitter ernst damit.

Wenn aber die Natur zum Objekt der Kontrolle, des Konsums und der Sorge geschrumpft ist, wenn sie ansonsten nur noch im Tierfilmkanal läuft, als Lebenshilfebüchlein auf dem Nachttisch liegt oder aus Wahlplakaten herausgrinst, dann nähert sich der Prozess der Umwandlung wohl seinem Abschluss.

3.2 Wissenschaft nimmt der Natur nichts
Begonnen hat dieser Prozess, wie jeder weiß, mit dem Genuss der verbotenen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Adam und Eva mussten daraufhin das Paradies verlassen, was nichts anderes heißt, als dass sie die wissenschaftliche Laufbahn einschlugen und sich darauf verlegten, das Selbstverständliche systematisch in Frage zu stellen und ihre Sicht der Dinge den Mächten der Zeit zu überantworten.

Wissenschaftliche Erkenntnis allein nimmt der Natur nichts. Sterne ziehen ihre Bahnen, unabhängig von dem physikalischen Weltbild, das ihnen diesen oder jenen Verlauf zuweist. Pflanzen wachsen, unabhängig davon, ob es sich um eine Wildpflanze, um gezüchtete Exemplare oder um gen-manipulierte Sorten handelt. Meine Muskeln tun das ihre, unabhängig von meinem Wissen über die Biophysik der Muskelkontraktion. In der Sphäre der Kultur mögen mir meine Kenntnisse zu Macht und Ansehen verhelfen. Ich kann im Bio-Unterricht damit glänzen oder auf Parties damit angeben. Als Ingenieur könnte ich mein Wissen um den Aktin-Myosin-Komplex im Muskelgewebe möglicherweise nutzen, um Robotern das Laufen beizubringen. Aber ganz egal, ob das Wissen in der technischen Anwendung und im diskursiven Widerstreit der Interessen zum Machtfaktor wird und die Welt verändert: Die Natur geht ihren Gang.

So ist es immer gewesen. Stets segelten wir als Kapitäne des Wissens in weiten Meeren des Nicht-Wissens. Stets durften wir stolz auf unser Schiff sein, weil es uns weiterbrachte und weil es trug. Selbst dann brachte es uns noch weiter und trug es noch, als sich niemand mehr mit den Antriebsaggregaten im Maschinenraum auskannte. Das Schiff schien von selbst zu fahren. E la nave va.  – Bis wir merkten, dass es uns längst davongefahren ist und wir uns als Geister über den Wassern schwebend wiederfanden.

3.3 Wissen, das Sorge schafft

3.3.1 Denaturiertes Klima
Bekanntlich ist das Klima, das als Witterungs-Gegebenheit der Natur angehört, heute auch ein Kulturphänomen. Und zwar nicht deswegen, weil wir es irgendwie verhunzt hätten, sondern weil Wissenschaftler es auf die Agenda gesetzt und somit zu einem Streitobjekt und zu einem Gestaltungsthema gemacht haben. Um die Welt zu retten, sagen die Idealisten. Um die Interessen bestimmter Mächte am Erhalt des klimatischen Status Quo zu vertreten, sagen die Realisten. Um ihre eigenen Pfründe zu sichern, sagen manche Ketzer. Du und ich sagen dies und das. Einer begreift die Klimafrage vielleicht als sittliche Aufgabe, verkauft sein Auto und setzt sich für eine „klimaneutrale Energiepolitik“ ein. Ein anderer legt sich Scheuklappen und einen SUV zu. Aber selbst die leichtesten Scheuklappen sind fühlbar, und selbst unbedingtes Engagement befreit nicht von allen Lasten: Uns alle bringt das Wissen um die Machbarkeit des Klimas in die unglückselige Lage, das Wetter nicht mehr als etwas schlechthin Gegebenes anzusehen und anzunehmen, sondern zu fragen, was Sonne, Wind und Regen wohl heute in Bezug auf die allgemeine Klimaentwicklung bedeuten mögen. Ein Bereich der Wirklichkeit, der einmal so selbstverständlich war wie mein Muskelspiel, ist zu einem Problem geworden, das jeden einzelnen Menschen verunsichern und zermürben muss, weil kein einzelner Mensch es lösen kann. Dem Sonnenschein haftet heute etwas Gemachtes an, jede stärkere Windböe erinnert an eine Schuld, jeder Regenguss wirkt wie gestohlen. Gegen die restriktiven Morallehren der Vergangenheit, die den freien Genuss der Natur vor allem im Bereich der Sexualität behinderten, konnte man sich auflehnen. Gegen das neue Wissen jedoch, das die Natur vergällt und ungenießbar macht, scheint kein rationaler Einwand möglich. Dieses Wissen kann kritisch oder affirmativ, sachlich oder ironisch getönt sein, aber es begeistert nie. Es erhellt nichts, beweist nichts, bewegt nichts, weil die fatale Infusionslösung, die unablässig aus dem Tropf der Subtexte in unser Nervensystem rinnt, das graue Gift der Sorge ist.

3.3.2 Denaturierte Leiblichkeit
Sorge und Freiheit bedingten einander, heißt es. Beides gehöre zum Zivilisationsprozess. Mehr Freiheit von natürlichen Gegebenheiten führe unweigerlich zu mehr Verantwortung für die Natur. Zu Förstern der Welt seien wir bestellt. Gewissenhaft hätten wir uns einzusetzen für den Naturschutz, für die ökologische Landwirtschaft, für ein ressourcenschonen­des, nachhaltiges Wirtschaften, für grüne Technologien, für eine bioethisch korrekte Entwicklungsplanung, ganz allgemein für ein vernünftiges Zusammenwirken von Freiheit und Fürsorge. Wie das aussehen kann, lässt sich im Bereich der leiblichen Gesundheit sehr eindrücklich studieren.

Der Leib als inkarnierte Natur versteht sich zwar von selbst. Das leibliche Sein eines Menschen des 21. Jahrhunderts ist so wenig fragwürdig wie das einer Katze, eines Affen oder eines Neandertalers. Wer seine Atemtätigkeit, seinen Herzschlag, den Blutkreislauf oder die Stoffwechselvorgänge fortwährend in Frage stellt, womöglich um „bewusst zu leben“, hört auf zu leben. Jedoch genügt sich der Leib nicht selbst. Alle Organismen interagieren mit der Umwelt, und die sogenannten höheren Lebewesen müssen sich dauernd um ihren Leib kümmern, weil er Nahrung, Zuwendung, Schutz, Pflege, Stimulanz und gelegentlich auch Medizin braucht. Nun ist medizinische Fürsorge nicht zu verachten. Sie schenkt Freiheit von Leiden und zählt zu den höchsten kulturellen Gütern. Paradoxerweise macht jedoch die Überversorgung mit medizinischem Wissen die Gesundheit heute unmöglich, weil es jede kleinste Abweichung von einer erträumten – und aus ökonomischem Interesse propagierten – Idealbefindlichkeit, mithin jede Unpässlichkeit, als behandlungsfähige und behandlungswürdige Krankheit stempelt. Dabei kompliziert der endlose Streit über „wahres“ und „falsches“ medizinisches Wissen das Problem noch. Bekanntlich ist das Wissen um Gesundheit, Krankheit und Heilung inzwischen zu einem derart unübersichtlichen Dschungel aus Erkenntnissen, Halbwahrheiten, Mythen, Gerüchten und Lügen herangewuchert, dass niemand mehr ohne Wegweiser hindurchsteigt. Weil aber keiner sicher sein kann, welcher Pfeil in die Freiheit weist und welcher in die Irre führt, begleiten quälende Sorgen den Weg durch die kognitiven Finsternisse. Den Ängstlichen bereitet jeder Schritt Schmerzen. Überall lauern Gesundheitsrisiken und Krankmacher, die Luft zittert vom Getöse der Ratschläge und Warnungen. Helm auf, oder du verunglückst! Eincremen, oder du stirbst an Krebs! Achtung, Milben, Zecken, Feinstaub! Laufend Blutdruck kontrollieren! Elektrosmog meiden! Killerstoffen in der Nahrung ausweichen! Kein Fleisch! Kein Weizen! Im Haus bleiben! Im Bett bleiben! Nicht rühren! Still, still! Gleich kommen die Medikamente, die Drogen, die neuesten Informationen

Übertrieben, zugegeben, aber am Faktum und an der Tendenz besteht kein Zweifel.  Und wenn die Denaturierung des Klimas als Luxusproblem abgetan werden kann, ist die Denaturierung der Leiblichkeit schon heute eine Volksseuche. Ein chronisches Übel ohne Aussicht auf Besserung übrigens, weil seine Heilung von mächtigen Wirtschaftsinteressen planmäßig hintertrieben wird.

3.3.3 Denaturiertes Wachstum
„Die Erde ist nur noch dazu da, dass die Pflanzen nicht umfallen“, sagte ein Landwirt neulich im Fernsehen. Mit der pointierten Formulierung wollte er darauf hinweisen, dass unsere laienhaften Vorstellungen vom pflanzlichen Wachstum hoffnungslos romantisch und vollkommen obsolet sind. Zumindest in der industrialisierten Landwirtschaft ist das Wachstum heute ein in jeder Phase von Menschen gesteuerter Gestaltungs- und Produktionsprozess, der vom bewussten Design des Saatgutes über die kontrollierte Nährstoffzufuhr während der Wachstumsphase bis hin zum Produkt-Branding bei der Ernte reicht. Nur insofern wachsen die Pflanzen noch natürlich (vgl. oben), als ihnen die biochemischen Stoffwechsel-Programme als Vermächtnis einer selbstregulativen Vorzeit weiterhin zu eigen sind. Alles andere gehört der Kultur. Im Prinzip gilt das nicht erst seit gestern. Schon seit dem Beginn der Getreide-Kultivierung im Zuge der Neolithischen Revolution vor zwölftausend Jahren gehören Nutzpflanzen nicht mehr ganz sich selbst. Dass sie jedoch in den letzten Jahren rapide an Eigentümlichkeit eingebüßt haben, kann niemand leugnen, dessen Geschmackssinn noch halbwegs intakt und dessen soziales Gewissen noch nicht vollends verkümmert ist.  Zum einen mangelt es industriell erzeugten Feldfrüchten an Charakter; ihr Erscheinungsbild gleicht sich immer mehr ihrem Begriff an, während ihre Substanz zunehmend verwässert; sie reizen und sättigen noch, munden aber nicht mehr. Zum anderen weist der aggressive Ökonomismus der an der industriellen Nahrungsmittelproduk­tion beteiligten Konzerne, Forschungseinrichtungen, Interessenverbände und Behörden, die die Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft bereits heute maßgeblich bestimmen, in eine Zukunft vollständigen Ausgeliefertseins. Ästhetisch gesehen läuft die Kommerzialisierung des Wachstums auf vollendeten Kitsch hinaus, gesellschaftspolitisch droht der Hyper-Faschismus eines globalen Menschenmastbetriebs. Die Denaturierung des Klimas beeinträchtigt das Leben bloß, die Denaturierung des Leibes und des Wachstums beschädigt es.

3.3.4 Denaturiertes Leben
In populärwissenschaftlichen Beiträgen über die Biologie des Menschen sind Gehirne als Demonstrationsobjekte ein wenig aus der Mode gekommen. Auch über typische Merkmale wie den aufrechten Gang, den opponierbaren Daumen oder den Denkapparat reden die Wissenschaftsverkäufer im Fernsehen zur Zeit eher selten. Nicht was uns auszeichnet vor anderen Lebewesen, sondern was wir mit fast allen gemein haben, macht heute Quote. Dass wir mit Hausschweinen nahezu das komplette Genom teilen. Dass wir zu soundsoviel Prozent Fruchtfliegen sind. Solche Vergleiche verblüffen, aber sie beruhigen auch, verschaffen sie dem Zuschauer doch das gute Gefühl, das auch einen absoluten Herrscher früherer Zeiten wohlig durchströmt haben mag, wenn er sich ausnahmsweise zu dem Zugeständnis herabgelassen hatte, er sei auch nur ein Mensch. Vielleicht rühren sie sogar an das tiefreligiöse Gefühl der Verbundenheit mit Allem, das ja stets durch die Hinwendung zum Geringsten seine größte Wirksamkeit und Macht entfaltet hat. Von der Seligpreisung der „geistlich Armen“ allerdings, dem revolutionären Herzstück der Bergpredigt, bleibt in der Wissenschaftssendung nur der profane Trost übrig, der da lautet: Du bist auch nur ein Naturwesen.

Dass wir zuweilen nichts lieber sein möchten, sieht man daran, dass sich nichts so gut verkauft wie Natur. Nicht nur im Joghurt ist sie gefragt, sondern auch im Urlaub, in der Heilkunde, beim Hausbau, in der Mode, der Kosmetik, der Politik, der Liebe, eigentlich überall. „Powered by Nature“, ein Slogan nach unserem Geschmack, steht auf Geschirrspülmittelflaschen. „Natürlich aktiv“ will eine „Powerfrucht“-Zubereitung sein. Der Schlachtgroßbetrieb Agrimeat stempelt furchtlos „Natürlich lecker!“ auf seine Industriefleischpackungen. So groß ist das Verlangen nach einer unverstellten Wirklichkeit, dass wir geneigt sind, selbst den unzuverlässigsten Schildern in Richtung Natur nachzugehen.

Allerdings nur zeitweise. Naturwesen oder zumindest der Natur zugewandte Wesen sind wir nur in unserer Eigenschaft als Konsumenten, im Berufsleben jedoch, als Produzenten von Dingen oder Ideen, sind wir Kultur-Schaffende. Das heißt, wir initiieren, gestalten, managen, propagieren und realisieren genau jene Denaturierungsprozesse, von denen wir uns nach Feierabend freikaufen wollen.

Im großen Theater der Doppelbindung erscheint das Leben manchmal noch wie eine ferne Erinnerung.

Das Leben, das sich von selbst verstand, ehe es sich in Frage stellte. Die Kindheit, die ein Glücksfall und ein Spiel war, ehe sie ein Business Case wurde. Die Jugend, die den Aufbruch verkörperte, ehe sie im Altersheim verdämmerte. Die Arbeit, die nicht mehr gut tut, seit sie gar nicht mehr getan werden muss. Das wilde Denken, das im Gehege der politischen Korrektheit verkümmerte. Der Fels der Intimität, den die digitale Wirtschaft zum Steinbruch machte. Das Geschlecht, das ein Eigentum war, bevor es eine Handelsmarke wurde. Die Zeugung, die ein menschlicher Akt war, bevor sie zum medizintechnischen Vorgang verkam. Die Schwangerschaft, die ein Segen war, bevor sie zum Risiko wurde. Der Tod, der zu seiner Stunde kam, ehe er sich als Dauergast in der durchsorgten Existenz einnistete.

4. Natur und Design

4.1 Emanzipation vom Leben
Gewiss kann man das rundum versorgte und planvoll entsorgte Leben bejahen. Man kann es in der denaturierten Geisterwelt aushalten, kann sie sogar tollkühn zum endzeitlichen Anthropozän erklären oder dummdreist als transhumanistisches Eldorado etikettieren. Umwandlung der Natur ist Emanzipation vom Schicksal, heißt es bei den Geisterweltlern. Als Naturkinder waren wir Leibeigene der Gegebenheiten; dank des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts können wir endlich Gestalter unseres eigenen Kosmos sein. Biologische Mitgiften wie Aussehen, Größe, Geschlecht, Dispositionen für Krankheiten, Fruchtbarkeit, physische Kraft, musisches Talent, selbst die Intelligenz müssen das Dasein nicht länger determinieren. Man kann sich nach Wunsch optimieren.

4.2 Design versus Bildung
In gewisser Weise stand es Menschen immer frei, sich zu verbessern, zu verschönern, zu verwirklichen. Man kann dieses Tun Bildung nennen, es impliziert jedenfalls: lernen, üben, experimentieren, sich diziplinieren, Irrtümer begehen, Rückschläge einstecken, geduldig sein, wachsen bis an die eigenen Grenzen. Bildung ist Schnitzen. Man hat ein Stück Holz und macht daraus, was darin steckt. Optimierung dagegen ist Design. Man macht einen Entwurf und besorgt sich die für die Realisierung erforderlichen Komponenten auf dem Markt. Optimierung ist Kaufen.

Es fragt sich, was der Markt hergibt. Theoretisch alles, faktisch aber nur das Gebotene. Denn das Individuum lenkt den Markt nicht, es driftet in ihm; und da die Drift vor allem durch Masse und Marketing bestimmt wird, will der Käufer in der Regel genau das, was sich ihm bietet. Es ist also nicht so weit her mit dem gestalterischen Freiraum, von dem die Selbstoptimierer schwärmen. Nur für den ist dieser Raum der menschliche Kosmos, der seine eigenen Grenzen mit den Grenzen des Marktes und seiner Herren identifiziert.

4.3. Anspruch und Wirklichkeit des Designs
Die bürgerliche Ermächtigung zum Design bewegt die Welt seit mehr als zweihundert Jahren. Trotz aller Verbrechen gegen die Erde und die Menschheit, die bis auf den heutigen Tag im Namen der Modernisierung begangen werden, scheint der Glaube an die Perfektibilität des Menschen durch Gestaltung unerschüttert. Nicht zuletzt liegt das wohl daran, dass dem Designbegriff – ähnlich wie dem Bildungsbegriff – das Streben nach ästhetischer Qualität, ethischer Verantwortlicheit und Wahrhaftigkeit eingeschrieben ist. Gestalten heißt schön machen, gut machen und wahr machen. Von seinem Begriff her ist Design so ungefähr das Beste, was man heute tun kann. Wen wundert es also, dass andere Schlüsselworte der Moderne wie Toleranz, Freiheit oder Demokratie allmählich überstrahlt werden vom schönen Schein, der die Losung Design! umgibt. Soweit die Ideologie.

In der gesellschaftlichen Praxis ist Design lediglich ein Faktor im Produktionsprozess, wenn auch ein wichtiger. Was die Wissenschaft nur aufzeigt und die Technik nur vormacht, wird erst durch Design zum vorzeigbaren, verwertbaren und mithin machbaren Produkt. Ob etwas gut gestaltet ist, ob sich also beispielweise ein Smartphone, ein Brustimplantat, ein Finanzprodukt oder ein Gesetz im Gebrauch bewährt, ist dabei allerdings keineswegs immer ein Kriterium für gelungenes Design. Im Gegenteil präferieren „die Märkte“ in der Regel das unbrauchbare, zum schnellstmöglichen Konsum hergerichtete Produkt. Design verhilft einer Ware also nicht selten zum Markterfolg, indem es sie hässlich, schlecht und falsch macht.

Ökonomisch gesehen sind solche „falschen“ Waren ohnehin die besten Produkte, weil sie weder gebraucht noch verbraucht, sondern lediglich gekauft werden müssen, um sogleich den Wunsch nach einem neuen Produkt entstehen zu lassen. Kaufen, um zu kaufen: Gewissenhafter lässt sich die heiligste Pflicht der Marktteilnehmer, die Produktion zu forcieren, überhaupt nicht erfüllen.

4.4. Produktion ist Natur
Was aber ist die industrielle Produktion heute? Eine bloße Funktion des Finanzsektors? Die moderne Form des Krieges? Ist sie am Ende Natur? Die Selbstverständlichkeit, mit der wir sie vorantreiben, deutet darauf hin. Das unbedingte Machen, dem Politik, Wirtschaft und Medien, letztlich auch die Kunst unisono huldigen. Dem die nördliche Hemissphäre vom aufstrebenden Osten bis zum machtbewussten Westen rettungslos verfallen ist. Dem wir selbst ständig das Wort reden. Dem jede Sekunde alles schön und gut und wahr Gemachte zum Opfer fällt. Dem nichts heilig ist außer der Trinität von Mehrmachen, Schnellermachen und Weitermachen. Ist die Produktion etwa ein Beispiel für jenen eingangs erwähnten „reinrassigen Naturalismus der Gier und Trägheit“, gegen den wir den „kulturgezeugten Bastard Natur“ aufbieten wollten? Dann wird es höchste Zeit, nach der Natur in der Kultur Ausschau zu halten.

5. Natur in der Kultur

5.1 Wissen ist Macht und Ohnmacht
Der Verstand sträubt sich zunächst gegen den Gedanken, Wissen schaffe Unsicherheit. Wissen ist die feste Burg, die vor äußeren Feinden und inneren Dämonen schützt. Wissen ist die Voraussetzung für Freiheit, Wohlstand, Kultiviertheit. In jedem Fall sicherte es seit Urzeiten unser Überleben. Was wären wir ohne das Wissen des Urmenschen um den Feuerstein. Ohne das Wissen des Schmieds um die Härtung des Eisens. Ganz sicher wären wir nicht so weit wie heute. Vermutlich wären wir nicht annähernd so fortgeschritten wie die Aborigines der Traumzeit, deren geheimnisvolle Pfade gesäumt waren mit Wegweisern überlebensnotwendigen Wissens um Wasserstellen und Nahrungsquellen. Wohl wahr. Gleichwohl muss man die Aussage relativieren. Wissen sichert nicht das Überleben der Menschen schlechthin, sondern das Überleben der fortgeschrittenen Kultur. Der Feuersteinmensch war einfach derjenige, der übrig blieb. Der Bronzemensch, der ganz gut zurecht kam, musste sich nur dem Eisenmenschen geschlagen geben.

Dass zumindest der technische Fortschritt ein zweischneidiges Schwert ist, wusste im übrigen schon der Eisenmensch. Hephaistos, der griechische Gott der Schmiedekunst, ist ein überaus starker, aber auch ein lahmer, missgestalteter Mann. Die Frauen laufen ihm davon. So kunstvoll er Aphrodite oder Athene umgarnen mag: Am Ende zieht er den Kürzeren und sieht sich homerischem Gelächter ausgesetzt. Der Schmied macht die Gruppe stark und sich selbst lächerlich. Das Schwert erlangt Macht in der Welt und schafft Ohnmacht im eigenen Haus. Wissen sichert das Überleben und verunsichert die Lebenden.

Ihnen bleibt allerdings nichts anderes übrig, als sich mit dem Wissen irgendwie zu arrangieren. Wer den Schmieden oder den Software-Ingenieuren auf dem Weg der Erkenntnis folgt, findet nicht mehr zurück ins Paradies des Naturzustands, in dem sich alles von selbst versteht. Oder doch? Immerhin leben wir nach wie vor in unseren Leibern, die für das ihre sorgen, egal ob wir im Paradies wandeln, auf dem Acker schuften, in der Fabrik malochen oder unsere Körper von einem Bildschirm zum nächsten schleppen. Wer sind wir, diesen Umstand zu ignorieren! Was wäre das für eine Intelligenz, die nicht vom Leben selbst lernte! Tatsächlich tut sie es andauernd. Und natürlich tut sie es auch im Hinblick auf entlaufenes, verstörendes, unbedachtes Wissen: Sie setzt alles daran, es einzuholen und der Natur wieder einzuverleiben. Und zwar tut sie dies auf zweierlei Weise.

5.2. Formen des Umgangs mit Wissen
Zum einen integriert sie neues Wissen in alte Vorstellungswelten. Dabei behilft sie sich zum Beispiel des mythischen Denkens, das zeitgebundene Rätselfiguren aus ihren Kontexten löst, um sie als überzeitliche Heldenfiguren goutieren zu können („Der Google-Algorithmus“ als Zaubermacht; „Merkel“ als Göttin der Politik; „der Journalist“ als Heros der Aufklärung). Auch Rituale helfen beim Einschluss fremden Wissens ins eigene Leben. Indem sie es stets auf dieselbe Weise umgehen, lassen sie den Skandal zur Gewohnheit werden und alle Ungerechtigkeit in Vergessenheit geraten (das Frühstück bleibt das Frühstück, auch wenn der Toast nur noch ein Witz und der Schinken bereits ein Verbrechen ist). Selbst mit neurotischen Zwangshandlungen versucht die Intelligenz, den mit dem Denken verbundenen Risiken, Gefahren und Unsicherheiten beizukommen (Ich dusche, also bin ich).

Zum anderen verarbeitet Intelligenz fremdes Wissen durch Lernen. Was aber ist Lernen anderes als Anpassung, Anverwandlung und Aneignung in dem Sinne, dass etwas höchst Fragliches in etwas beinahe Selbstverständliches überführt wird! Man bezeichnet das Lesen, Schreiben und Rechnen als Kulturtechniken, aber für den, der es kann, ist es so natürlich wie gehen, sprechen oder schwimmen. Für jemanden, der den Satz des Pythagoras einmal begriffen hat, versteht es sich von selbst, dass ein Dreieck mit den Seitenlängen von 3, 4 und 5 Zentimetern ein rechtwinkliges Dreieck ist. Sogar für den Maurer, der den Satz überhaupt nicht kennt, jedoch mit einem Zwölfknotenseil umzugehen weiß, versteht es sich von selbst, dass ein aus einem dreigliedrigen, einem viergliedrigen und einem fünfgliedrigen Kettenstrang gebildetes Dreieck ein rechtwinkliges Dreieck ergibt.  Egal ob wir uns das Laufen beibringen, handwerkliches Know-how erwerben oder theoretisches Wissen verarbeiten: Lernen zielt weniger auf Erweiterung als auf Entlastung des Bewusstseins, weniger auf Speicherung von Inhalten als auf Sicherung des Lebens, weniger auf Besitztum als auf Wachstum. Zusammen mit der Überlieferung ist das Lernen ein perfekter Mechanismus zur Erzeugung von Natur in der Kultur.

Dieser Mechanismus greift nicht mehr, seit uns der Keilriemen der Überlieferung abhanden gekommen ist.

5.3 Expertentum und Einsamkeit
Zumindest als kulturprägendes soziales Handeln hat die Überlieferung ausgedient, auch wenn vielerorts Traditionen beschworen und gepflegt werden. Ihre Funktion übernahm nach und nach das bürgerliche Bildungssystem, das zwar auf einem hehren, menschenfreundlichen Programm gründet, aber von Bürokraten stets so ausgestaltet wurde, dass es eher Soldaten des Fortschritts als freie Geister heranbildete. Ohnehin hat dieses Bildungssystem, wie jedes Kind weiß,  sein humanistisches Feigenblatt längst abgeworfen und hechelt, wie alle Institutionen, nur noch „den Märkten“ hinterher. Schüler sind Umschüler heute. Bereits Erstklässler wissen, dass allein lebenslanges Umdenken und Umlernen lebenslanges Mitkommen und Mitmachen ermöglicht. Frag nicht, wohin der Weg führt, wer ihn bahnt und was er dir abverlangt! Schau nur, dass du mitkommst und mitmachst. Angesichts der denaturierten Landschaften, durch die wir uns heute schon bewegen, stellt sich die Frage, warum überhaupt noch irgend jemand diesen teuflischen Imperativen Folge leistet. Selbst in den „ärmeren Ländern“ scheint es den Markt-Aufsehern immer schwerer zu fallen, die Leute mit der Aussicht auf ein „besseres Leben“ zum Mitmachen zu motivieren. Aber im Westen? Bei uns? Was zwingt Individuen und Nationen dazu, die erkennbar in eine Kulturkatastrophe führende Route stur beizubehalten?

Im wesentlichen sind es wohl drei Gründe. Zum einen haben wir panische Angst vor dem Zurückfallen und Überholt-Werden (da diese Angst agonal veranlagten Menschen wie uns angeboren ist, fällt es den Lehrern als den Ängstlichsten unter den Ängstlichen nicht schwer, sie zu schüren). Zum anderen lassen wir uns durch mythische Markenversprechen aus Wirtschaft, Politik und Kulturbetrieb blenden. Und zum Dritten erfährt jeder Einzelne jeden Tag, dass Lernen nach wie vor etwas bringt. Und zwar nicht allein die berühmten Karrierevorteile. Sondern vor allem das Gefühl der Selbstsicherheit, das sich naturgemäß  im Zuge der Wissensaneignung einstellt.

Die fortwährende Vermehrung und zunehmende Verzweigung des Wissens bringt es allerdings mit sich, dass individuelles Lernen heute zwar das Ego stärkt, aber auch einsam macht. Lernen ist mehr denn je ein Katalysator für Vereinzelung. Es erzeugt selbstsichere Experten, die sich aus dem Weg gehen, weil sie einander wenig zu sagen haben und nichts voneinander wissen wollen. Wenn diese Experten etwas loswerden, erfahren und erleben wollen, gehen sie nicht auf die Piste, sondern online.

6. Der Nutzer und sein Nutznießer

Der „technologisch-epistemische Apparat, den wir aus schlechter Gewohnheit weiterhin das Internet nennen“ (Evgeny Morozov), interessiert uns meist herzlich wenig, wenn wir E-Mails versenden, eine Online-Buchung vornehmen oder den Wikipedia-Artikel zum Stichwort „Natur“ studieren. Gewöhnlich betrachten wir das Internet als neutralen Kommunikationskanal, in dem du (Wikipedia, iTunes, Amazon, YouPorn, Marc Zuckerberg etc.) und ich Informationen austauschen. Solange die Informationen fließen, an denen uns etwas liegt, bleibt das System im Wahrnehmungshintergrund wie das Licht beim Betrachten eines Gemäldes. Selbst das ungute Gefühl, das uns zuweilen beschleicht, wenn eine quer gelesene Meldung uns unversehens an die mit dem Apparat verbundenen Menschheitsprobleme erinnert, ändert nichts an der Tatsache, dass wir das Internet längst als eine Selbstverständlichkeit in unser Leben integriert haben.

Erst eine Betriebsstörung macht uns die extreme Künstlichkeit des Ganzen schockartig bewusst. Jeder kennt das aus Ärger und Scham gemischte Gefühl, das sich einstellt, wenn die Verbindung plötzlich – durch einen Leitungsdefekt oder den Ausfall von Endgeräten – gekappt wird. Keine „Zeitung“ mehr! Die „Post“ kommt nicht. Das gesamte „Büro“ mit seinen Unterlagen, Entwürfen und Zeitplänen leergeräumt. Das gigantische „Archiv“ mit seinen Bilddatenbanken, Büchern, Zeitschriften, Newsletters und Nachschlagewerken verschwunden. Niemand zu erreichen! Die „Arbeit“ gefährdet oder zerstört, das „Leben“ unerträglich eingeengt! Man fühlt sich des Elements, in dem man lebte, beraubt. Man zappelt tatsächlich wie ein Fisch auf dem Trockenen. – Bis einem aufgeht, dass es eben nicht das Wasser, nicht das Licht und nicht die Luft war, die einem entzogen wurden. Dann verdrängt für einen kurzen Moment die Scham den Ärger. Fielen einem die Worte ein, würde man vielleicht ausrufen: Was habe ich getan! Wie konnte ich mein Herz an solch einen Moloch hängen! Was hat mich getrieben, Wasser, Licht und Luft geringer zu achten als dieses alles in allem doch beschämende und entwürdigende Dasein im Dienst eines epistemischen Apparats!

Im Dienst? Wir bezeichnen uns als User, als Internetnutzer. Nach unserem Verständnis sind wir es, die den Apparat gebrauchen, steuern, lenken, beherrschen, managen, gestalten und formen. Ungeachtet aller theoretischen Einsicht in den trügerischen Charakter unserer Selbst-Bilder begreifen wir uns im Alltag pragmatisch als Herren über die eigenen Zwecksetzungen und bedienen uns ganz selbstverständlich der jeweils neuesten und geilsten Mittel. Freilich lassen sich manche Werkzeuge bekanntlich nicht in Dienst nehmen, ohne zugleich von ihnen in Dienst genommen zu werden (eine Dampfmaschine, eine Armee, eine Industrie). Und gerade im Umgang mit dem technologisch-epistemischen Apparat namens Internet sind wir ganz sicher immer zugleich Nutzer und Benutzte.

Dass vor allem Internetkonzerne jeden Klick und jede Bewegung registrieren, weil sie Ausdruck einer Präferenz sind und im Verbund mit vielen anderen Präferenzbekundungen ein Neigungsprofil entstehen lassen, das hervorragend zur Verhaltenssteuerung  und Persönlichkeitsdeformation eingesetzt werden kann, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Aber solange Big Data noch ein Wort ist, das mehr nach der Zukunft von 1984 als nach unserer Zukunft klingt, ist uns dieses Wissen wurst. Die Dinge funktionieren. Wen interessiert unter diesen Umständen überhaupt noch die Aneignung von Wissen!

„Ich schlage des öfteren englische Vokabeln unter dict.cc nach“, sagt Bix B. „Für die Art von Übersetzungsarbeiten, die ich manchmal zu erledigen habe, gibt es nichts Bequemeres. Die Übersetzungsvorschläge erscheinen im Bruchteil einer Sekunde auf dem Bildschirm. Manchmal denke ich, dass sie fast genau so schnell auf dem Bildschirm erscheinen, wie sie in meinem Kopf erscheinen würden, wenn sie mir bekannt wären. Früher habe ich unbekannte Wörter, die ich umständlich in einem Wörterbuch nachschagen musste, in ein Vokabelheft eingetragen. Ich habe mir diese neuen Vokabeln von Zeit zu Zeit angeschaut und habe sie mit der Zeit gelernt. Das alles entfällt, seit ich dict.cc nutze. Ich lerne die neuen Vokabeln nicht mehr. Ich muss sie nicht mehr lernen. Die Maschine ist mein zweiter Kopf.“

„Ich hatte neulich geschäftlich in Mailand zu tun“, erzählt Knut S. „An einem Abend hatte ich mich mit einem Freund aus Berlin, der ebenfalls zufällig in der Stadt war, zum Essen im Ristorante Rigolo verabredet. Arno war das erste Mal in Mailand, aber er sagte, ich brauche ihm den Weg nicht zu beschreiben; er finde das Rigolo schon. Es fügte sich so, dass wir zur selben Zeit dort eintrafen. Ich näherte mich dem Lokal von Osten, Arno kam von Westen, von der Via Palermo her. Es war ein lauer Abend im April, die Straße war voller Leben. Ich erinnere mich an drei sehr attraktive Mädchen, die untergehakt und laut schnatternd ihres Weges gingen. Arno bemerkte sie nicht. Mich bemerkte er auch nicht. Er bewegte sich mit gesenktem Kopf, den Blick starr auf das Display seines Smartphones gerichtet, auf das Restaurant zu. Ich fand es merkwürdig, wie er den digitalen Stadtplan nutzte. Normalerweise studiert man doch die Karte, merkt sich ein paar Anhaltpunkte und marschiert dann los. Man will doch etwas sehen. Ehrlich gesagt, habe ich mich bei diesem traurigen Anblick gefragt: Willst du mit so einem Looser den Abend verbringen?“

„Der Münchner Hauptbahnhof ist nicht besonders schön, aber ich meine, es ist immerhin ein Hauptbahnhof und als solcher auf den ersten Blick zu erkennen“, sagt Thea L. „Aber die Jungs, die vor mir im Bus hockten, sahen gar nicht hin. Selbst die Leuchtschrift ,Hauptbahnhof‘ vorn im Bus beachteten sie nicht. Die Fahrgäste standen schon auf und bewegten sich zum Ausgang, als der eine Junge vom Handy-Fahrplan aufschaute und seinem Kumpel erleichtert zuraunte: ,Hauptbahnhof, wir sind da.‘ Ich habe manchmal den Eindruck, als trauten junge Leute inzwischen den Zuflüsterungen ihrer Geräte mehr als dem Augenschein.“

„Meine Tochter hatte ein Kleid entdeckt und wollte es haben“, sagt Gudrun E. „Bitte, Mama, bettelte sie. Was das denn für ein Kleid sei, wollte ich wissen. Wenigstens zur Farbe kann man sich doch vielleicht äußern. Aber sie hielt mir einfach das iPhone mit dem Foto unter die Nase. Geil, sagt mein Mann. Meint er das Kleid? Ich weiß es nicht.  Wahrscheinlich ist es einmal mehr die Technologie selbst, die ihn in Wallung bringt. Die kindliche Freude darüber, dass man es so machen kann!“

„Lesen lernen? Schreiben lernen? Rechnen lernen? Wir wissen doch auch nicht mehr, wie man eine Pfeilspitze fertigt oder ein Mammut erlegt. Das war auch mal elementar.“ Der smarte Internetintellektuelle schockiert mal wieder die ganze Talk-Runde. „Okay“, fährt er beschwichtigend fort. „So weit sind wir noch nicht. Aber schon heute erlaubt uns die Technologie, sehr viel Wissensballast abzuwerfen. Wir können uns ganz auf das Menschsein konzentrieren.“

Sergey Brin von Google lächelt. „Sehe ich auch so“, sagt er, während „Glass“ den Internetintellektuellen filmt und nebenbei als habituellen Schweinefleischesser und regelmäßigen Besucher der auf Kindfrauen-Pornos spezialisierten Internetseite Wow Girls identifiziert.

Will sagen: Der Preis für die Leistungen, die uns das Lernen, das Reden, das Denken und den freien, direkten, sinnlichen Weltbezug abnehmen, ist nicht gering. Ich fürchte, die Nutznießer des Internetbetriebs fordern nichts geringeres als den ganzen Homo sapiens. Es fragt sich, warum wir diesen Preis mit Freuden akzeptieren. Warum uns die Preisgabe des Menschseins als die natürlichste Sache der Welt erscheint.

7. Magische Technik

Bis vor wenigen Jahren waren Autos mechanisch hochkomplizierte, aber durchschaubare Geräte. Bei geöffneter Motorhaube konnte man fast sehen, wie sie funktionieren. Wer über geeignete Werkzeuge und ein bisschen Geschick verfügte, konnte sie sogar reparieren. Heute sind Autos hermetische Zauberboxen. Natürlich sind sie das nicht wirklich. Natürlich fährt auch ein modernes Automobil nicht von selbst, sondern benötigt einen Kraftstoff sowie Motor, Getriebe und andere, teils wohlbekannte Funktionsteile. Auch moderne Autos sind technische Konstrukte, deren Aufbau und Wirkungsweise jeder halbwegs intelligente Mensch von Grund auf und in allen Einzelheiten zumindest intellektuell nachvollziehen könnte – fehlten den allermeisten von uns nicht Zeit, Lust und Gelegenheit für derartig exotische Lernbemühungen. Unser Nicht-Wissen hat allerdings zur Folge, dass moderne Autos eben doch hermetische Zauberboxen sind. Genau wie Smartphones, Computer oder Waschmaschinen.

Das magische Fluidum, das die neueste Technik umgibt, überstrahlt sowohl den Warencharakter als auch den Werkcharakter der Dinge. Es lässt Gemachtes wie Gegebenes erscheinen, das zwar erkennbar einer anderen Klasse angehört als Bäume, Schwäne oder Babys, aber doch ebensogut als eine Art Naturwunder bestaunt wird. So wie Kulturschaffende sich der Mythenbildung bedienen, um Geschichtsereignisse in Naturereignisse umzuwandeln, nutzen Unternehmer, Ingenieure und Designer heute das Mittel der Mystifikation, um Industrieprodukten den Anschein von Naturprodukten zu geben.

Ich erinnere mich genau an meine erste Begegnung mit magischer Technik. Es war 1986, und ich arbeitete seit ein paar Wochen als Texter in einer bekannten Hamburger Werbeagentur. Meine wichtigsten Arbeitsgeräte waren Bleistift und Papier. Für längere Textentwürfe nutzte ich eine Schreibmaschine. Alle Kollegen hielten es so, auch Peter G., der Kreativdirektor. Eines Tages jedoch stand statt der olivgrünen Olympia-Schreibmaschine dieses beigefarbene Kästchen auf seinem Arbeitstisch. Peter hatte sich einen Mac zugelegt – und jeder, der das Gerät erlebte, war baff. Nicht dass man noch nie mit Computern zu tun gehabt hätte. Aber bisher waren Rechner in eigens dafür gebauten Häusern untergebracht gewesen. Und wenn nicht, waren sie ungefähr so hässlich und so laut wie mechanische Webstühle (unten im Schreibpool stand so ein IBM-Monster). Der Mac dagegen war ein hermetischer Zauberwürfel. Er begrüßte jeden mit einem netten „Pling“ und einem lachenden Gesicht. Man konnte verrückte Sachen damit anstellen. Zum Beispiel konnte man ein „Dokument“ in einen „Ordner“ oder in den „Papierkorb“ verschieben. Der schwarze Monitor des IBM-Monsters war ein Anzeigegerät, der lichtgraue Bildschirm des Macs war ein Simulacrum. Beim Schreiben war er ein Blatt Papier, beim Organisieren ein Desk top, eine Schreibtischplatte. Und das Verrückteste war: Niemand brauchte einem das zu erklären – es verstand sich von selbst.

Dreißig Jahre nach der Markteinführung des Apple Macintosh leben wir in einem technologischen Zaubergarten. Weil wir uns völlig frei darin bewegen dürfen und rundum mit allem versorgt sind, verwechseln manche dieses künstliche Paradies schon mit dem guten alten Garten Eden.

Er dürfe von allen Bäumen des Gartens essen, gebot der Herr dem Menschen einstmals, nur von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen solle er nicht essen. Im technologischen Zaubergarten bestimmt ein ähnliches Gebot unser Verhalten. Wir dürfen alle Geräte, die uns inzwischen zuwachsen wie Früchte, nach Belieben abgreifen, abnutzen und abstoßen. Da sich uns die nächste Gerätegeneration immer bereits überreif darbietet, braucht niemand schonend und lernend mit seinem Tool umzugehen, sondern darf sich nach Lust und Laune am jeweils Neuesten bedienen, um es schnellstmöglich wieder zu konsumieren. Supergescheite Experten mit kindlichem Gemüt sind wir, und sollen es bleiben, denn allein dieses schizophrene Profil garantiert, dass wir uns als zugleich hochintelligente Produzenten und besinnungslose Konsumenten um einen absurden Fortschritt verdient machen.

Die Pointe der Geschichte besteht darin, dass wir einmal mehr als moralische Idioten um einen Baum herumschleichen, von dessen Frucht wir nicht essen sollen.