Pasolini

Eine Reflexion vor dem Spiegel. Ein Augenblick des Aufbegehrens. Eine Erinnerung an den Freidenker Pier Paolo Pasolini. 1975 wurde der italienische Regisseur ermordet; im selben Jahr erschienen seine Freibeuterschriften, aus denen ich im Text zitiere 

Mit sechzig kann der Blick in den Spiegel zum erkenntnistheoretischen Abenteuer werden. Normalerweise fehlt einem natürlich der Mut es anzutreten. Man hat sich kennen gelernt und nähert sich dem Spiegel mit dem festen Vorsatz sich wiederzuerkennen. Das Gegenüber ist dann nichts weiter als das durch selektive Wahrnehmung erzeugte Selbstbild, mit dem man sein ganzes Leben verbracht hat. Gewiss können plötzlich auftauchende Flecken und Eintrübungen den Erkenntnisakt zu einer deprimierenden Angelegenheit machen. Die fahle Haut, das stumpfe Haar. Die selbst verschuldete Dicklichkeit. Die Zeichen des allgemeinen Verfalls, die beim besten Willen nicht mehr zu übersehen sind. Trotzdem wird das Bild im Großen und Ganzen den Vorstellungen entsprechen, die man sich davon gemacht hat. Zum erkenntnistheoretischen Abenteuer wird die Geschichte eher in jenen Momenten, in denen ich plötzlich und unvorbereitet auf mein Abbild stoße. Wenn ich es etwa unversehens in einem spiegelnden Schaufenster entdecke, kann die Wahrnehmung der Witzfigur, die mich aus dem Glas heraus anglotzt und dabei jeder Vorstellung spottet, zum Augenblick der Wahrheit werden.

Zwar kann ich die Ähnlichkeit jener befremdlichen Erscheinung mit mir nicht leugnen. Zwar kann ich nicht umhin, sie als mein Spiegelbild anzusehen. Aber es regt sich auch Protest gegen das Offensichtliche. Irgendeine widerständige Instanz zweifelt am Augenschein. Das bist du nicht, sage ich. Das Bild im Spiegel ist der andere, zu dem du dich notgedrungen gemacht hast. Der graue Mann. Der alte Sack. Der Zeitgenosse. Aber du gehst nicht auf im Gewordenen, du bist mehr als die Summe deiner Qualitäten. Etwas Unversehrtes, Unwandelbares steckt in dir, dem du blind vertrauen kannst. Etwas, aus dem heraus du lebst. Etwas, das Franz Kafka einmal den unzerstörbaren Kern genannt hat. Das Menschenkind. Die Seele. Ein ganz besonderes Exemplar von A.N. Whiteheads eternal objects. In diesem Augenblick bekenne ich mich dazu. Und indem ich mich rückhaltlos zu dem Glauben an mein metaphysisches Selbst bekenne, sehe ich auch die Welt mit anderen Augen an. „Sei ganz dein eigen, dann ist Gott dein eigen“, sagt Nikolaus von Kues. Und ganz so erfahre ich es in diesem Augenblick. 

Der erfahrene Glaube ist die Basis meiner Selbstsicherheit. Und er ist die Quelle meiner zeitkritischen Einlassungen, mit denen ich auch weiterhin gerade diejenigen zu quälen beabsichtige, die sich fest entschlossen haben, immer und unter allen Umständen mit der Zeit zu gehen. Ihr rastlosen Ingenieure! Ihr tüchtig frustrierten Lehrerinnen, Programmierer, Arbeiter, Richter und Manager! Ihr verlorenen Brüder und Schwestern aus den Dörfern! Wir sind denselben Weg in die Städte gegangen. Genau wie ihr stehe auch ich verwirrt und beeindruckt im Sturm der niederprasselnden Neuerungen. Euch sei versichert: Zwar entzündet sich meine Kritik in der Regel an gegenwärtigen Missständen, aber deshalb ist sie nicht blind gegenüber denjenigen der Vergangenheit. Ein Goldenes Zeitalter gibt es nur in der Erinnerung, in Gedichten und Liedern. 

Andererseits rührt bekanntlich nicht aller Glanz vom Gold her. Gewisse Ideen beispielsweise besitzen eine zeitlose Strahlkraft … 

Wenn ich das grüne Tal meiner Kindheit als ein irdisches Paradies darstelle, verschweige ich ganz bewusst die realen Aspekte, die es als ein von tiefen Zerwürfnissen, Ungerechtigkeiten, Mängeln und Ängsten durchzogenes Jammertal erscheinen lassen würden. Ich rühme das Tal nicht so sehr wegen des tatsächlichen Lebens, das ich dort geführt habe, sondern vor allem wegen der Idee vom guten Leben, die mir dort aufgegangen ist und immer noch von dort her einleuchtet. Diese Idee verträgt sich mit allem, was ist – außer mit dem Druck der Zeit. Das gute Leben ist schön und einfach. Es verlangt Entschleunigung, Entkommerzialisierung und Entflechtung (Suffizienz). Es vertraut auf die Kräfte des Einzelnen, soweit sie reichen, und darüber hinaus auf gegenseitige Hilfe (Subsidiarität). Und es setzt auf Unabhängigkeit von ökonomischen Großstrukturen durch weitgehende Selbstversorgung (Subsistenz).

Diese Forderungen verhallen wie Rufe im Wald, solange die große Mehrheit einer anderen Vorstellung vom guten Leben nachhängt. Muss ich deshalb verstummen? Lieber rufe ich mit Pasolini: „Ich beweine eine tote Welt. Aber nicht ich, der ich weine, bin tot. Wenn wir vorwärts gehen wollen, müssen wir die Zeit, die nicht mehr wiederkommen kann, beweinen und nein sagen zu dieser Realität, die uns in ihrem Gefängnis einschließt.“ Ich sehe es als ein großes – und im übrigen moralisch verpflichtendes – Geschenk an, dass ich den Ausklang des von Pasolini beschworenen Zeitalters noch selbst miterleben durfte. „Es ist diese grenzenlose, vornationale und frühindustrielle bäuerliche Welt, die bis vor wenigen Jahren überlebt hat, der ich nachtrauere.“ Die Menschen dieses noch nicht vom Konsumismus infiltrierten und bezwungenen Universums waren „Konsumenten von unbedingt notwendigen Gütern“. Und „das war es vielleicht, was ihr armes und prekäres Leben so notwendig machte. Es ist klar, dass überflüssige Güter das Leben überflüssig machen.“

Dass die Wahrheit dieses Satzes von niemandem ernsthaft bestritten wird, sieht man schon an dem ungeheuren Gedrängel, das vor den Toren herrscht, durch die man in jene Positionen gelangen kann, die noch ein Gefühl für die Notwendigkeit der eigenen Existenz vermitteln. Aber selbst Ärzte, selbst Soldaten, selbst Eltern und Kinder, zu schweigen von Politikern, Intellektuellen oder Arbeitern können sich ihrer Unabdingbarkeit noch sicher sein. Wir sind dabei, uns überflüssig zu machen. Trotzdem weicht niemand von der vor rund vierzig Jahren eingeschlagenen Route ab. „Der vom Zentrum geforderte Konsens zu den herrschenden Modellen ist bedingungslos und total. Die wirklichen kulturellen Modelle werden verleugnet. Die Menschen haben ihnen abgeschworen. Man kann daher behaupten, dass die vom neuen System von Herrschaft gewollte Ideologie hedonistischer ,Toleranz‘ die schlimmste aller Repressionen der Menschheitsgeschichte ist.“