„Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann,
der bei ihr war, auch davon, und er aß.“ 1. Mose 3
Der Mythos deutet die Welt, ohne sie auf den Begriff zu bringen. Wie ist der Kosmos entstanden? Wer bin ich? Und wie bin ich geworden, was ich bin? Was sind meine Aufgaben als Mensch unter Menschen? Woher kommt mein Unglück, meine Schuld, mein Elend? Was kann ich wissen? Wem soll ich dienen? Woran darf ich glauben? Was kommt nach dem Tode? Es sind die Grundfragen der Philosophie, die der Mythos zu beantworten sucht – aber er tut es in der ihm eigenen Weise: Seine Deutung ist Dichtung.
Jeder Mythos ist eine bildhafte Erzählung voller plastischer und unmittelbar einleuchtender Allegorien, aber auch voller dunkler Symbole und Chiffren. Weil diese Geschichten uralt sind, wissen wir meist nicht, wer sie ersonnen hat. Autoren wie Moses, Hesiod oder Homer haben vielleicht nur aufgeschrieben und literarisch zugespitzt, was an Erzählungen seit Urzeiten umlief. Weil sie von Interesse waren, spannend und zugleich höchst bedeutsam für die jeweiligen Hörer: deshalb gerieten diese Geschichten nicht in Vergessenheit, sondern wurden weitergetragen von Generation zu Generation. Aller Wahrscheinlichkeit nach veränderte sich ihre Gestalt jedoch im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte. Manches wurde weggelassen oder verkürzt, anderes hinzugedichtet oder ausgeschmückt. Das Ergebnis dieses Prozesses, der dem des jahrhundertelangen „Zersingens“ von Volksliedern entspechen mag, ist der niedergeschriebene und dann unverändert tradierte Mythos.
Führt man sich die Bedingungen seiner Genese vor Augen, ist es nicht verwunderlich, dass der Mythos in seiner Endfassung Erfahrungen, Erkenntnisse und Wertungen verschiedener Zeiten und verschiedener Bewusstseinslagen in verdichteter Form wiedergibt. Daher kommt es, dass der Mythos am Ende selbst so schillernd, geheimnisvoll und verwirrend erscheint wie die Welt, die er doch deuten will. Daher kommt es aber auch, dass er inspirierender und reicher, in gewisser Hinsicht auch wahrer ist als jede philosophische Theorie oder psychologische Studie. Und zwar insofern, als die Wahrheiten, die er zum Ausdruck bringt, quasi überzeitlicher Natur sind, da Menschen aus verschiedenen Epochen sie bestätigt fanden. Im Mythos erkannte und erkennt sich der Mensch wieder – deshalb bleibt er aktuell.
Akzeptiert man diese Sichtweise, dann ergeben sich daraus Maximen der Interpretation. Überhaupt ergibt sich die Notwendigkeit der Interpretation. Zwar überzeugen und fesseln viele Mythen auch als Story, aber die Freude an der Fabel ist eine Sache, die Frage nach dem Erkenntniswert eine andere. Liefern die „harten Fakten“ der Story gültige Erkenntnisse, sogar wissenschaftlich nachprüfbare Wahrheiten? Offenbar nicht. Die Menschheit trat nicht in Gestalt von Adam und Eva auf den Plan. Es gibt und gab keinen Baum der Erkenntnis, keinen Baum des Lebens, noch nicht einmal einen Garten Eden. Wer den Mythos wörtlich nimmt und an seinen buchstäblichen Sinn glaubt wie an ein Naturgesetz, macht sich lächerlich – wie jene Zeugen Jehovas, die überzeugt davon sind, dass Löwen und Lämmer einst in aggressions- und angstloser Eintracht miteinander leben werden, weil „es so geschrieben steht“. Lächerlich macht sich aber auch, wer den Mythos wörtlich nimmt, um ihn pseudowissenschaftlich zu untermauern oder naturwissenschaftlich zu demontieren. Die Kreationisten werden ihm ebenso wenig gerecht wie die Scientisten. Es gibt wohl nur einen angemessenen Weg, den tieferen Sinn des Mythos zu erschließen: den der hermeneutischen Befragung.
Der Mensch trat nicht in Gestalt von Adam und Eva auf den Plan? Doch, natürlich. Denn in sich eins war er nie, sondern von Anfang an geschlechtlich bestimmt, das heißt entweder Mann (Adam) oder Frau (Eva).
Das Paradies gab es nicht? Vielleicht nicht als Ort, möglicherweise jedoch als Befindlichkeit, als Epoche, als Existenzweise. In rousseauistischer Tradition kann man das Paradies beispielsweise mit einem wie auch immer gearteten „Naturzustand“ identifizieren. Der Garten Eden ist dann ganz einfach die Welt des unverbildeten, noch nicht vom „Unbehagen an der Kultur“ (S. Freud) angekränkelten Wilden.
Das Rousseau (fälschlich) zugeschriebene Diktum „Zurück zur Natur“ machte bekanntlich Epoche. Utopien von Marx bis Summerhill knüpften daran an. Selbst Nietzsches Übermensch trägt Züge des rousseauschen „edlen Wilden“. Gemeinhin erklärt man sich die enorme Wirkungsgeschichte des grundlegenden Gedankens durch die Verwerfungen, die mit der Entfaltung der modernen Zivilisation seit dem 18. Jahrhundert einhergehen: Entfremdung und Dekadenz sind die Stichworte. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass bereits der biblische Mythos von der Vertreibung aus dem Paradies die Schattenseiten des zivilisatorischen Fortschritts thematisiert. Das mühelose Dasein im Garten Eden steht in krassem Kontrast zum Leben außerhalb: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen. Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren.“ Hier die Natur mit ihrer Überfülle an Gaben, dort die (Agri-)Kultur mit ihren stets zu knapp bemessenen Erträgen, hier das freie Herumstreifen, dort die disziplinierte Arbeit: Den Übergang von der einen zur anderen Sphäre des Daseins erfahren Adam und Eva, wen wundert es, als schmerzlichen Bruch.
Unverkennbar reflektiert der Mythos eine Zäsur, die in der Menschheitsgeschichte tatsächlich nachweisbar und datierbar ist, nämlich den Übergang vom Sammler und Jäger zum Ackerbauer und Viehzüchter, der vor rund 10000 Jahren zuerst im Nahen Osten erfolgte. Neolithische Revolution nennen die Historiker diesen Einschnitt. Was besagt nun die Geschichte von Adam und Eva in diesem Zusammenhang? Eine Chronik des Umsturzes ist sie ja offensichtlich nicht, die biblischen Erzählungen entstanden zu einer Zeit, als die Neolithische Revolution längst vollzogen war, ersonnen wurden sie für ein Auditorium von Schafhirten und Landwirten, also den späten Nachkommen Kains und Abels. Dass diese ihr Dasein bereits als entartet begreifen konnten – und das taten sie, indem sie den Mythos rezipierten –, gibt zu denken. Dem zivilisatorischen Gewinn, den die Menschen durch ihre neuen Institutionen und Produktionsweisen verbuchten, stand offenbar von Beginn an das Bewusstsein des Verlustes gegenüber. So konstituierte sich der historische Mensch nicht allein durch die Beherrschung der Natur, sondern ebenso durch seine Sehnsucht nach dem Paradies. Fortschritt bedeutete ihm Segen und Fluch. Geschichte erfuhr er als Aufstieg und Abstieg. Das Neue erschien ihm als notwendig, das Alte hingegen als ideal.
Und so ist es die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch geblieben. Fast jeder entschiedene Schritt nach vorn war motiviert durch das Ziel zurückzukehren. Doch alle Versuche waren zum Scheitern verurteilt, weil der Eingang zum Paradies verschlossen ist – bewacht von Cherubim.
Bei aller Tragik erscheint der Vorgang in der historischen Perspektive als zwangsläufig: Der Mensch entwuchs eher dem Paradies, als dass er daraus vertrieben wurde. Doch der Mythos stellt es ja anders dar. Der Verlust des Urzustandes sei eine Konsequenz menschlichen Versagens, die Strafe für eine Überhebung. Was hat es nun mit dem Sündenfall auf sich? Warum soll es verboten sein, einen Apfel zu pflücken und ihn mit seinem Artgenossen zu teilen? Warum das göttliche Verdikt gegen Sexualität, die doch – wie naiv oder gescheit man den Naturzustand auch definieren mag – in jedem Fall das Allernatürlichste der Welt ist?
Um diese Fragen zu beantworten, scheint ein Wechsel der Perspektive angebracht. Wo der Mythos das Vorher und Nachher, den paradiesischen und den zivilisatorischen Zustand schildert, reflektiert er offenbar stammesgeschichtliche Erfahrungen (Phylogenese), das eigentliche Drama jedoch handelt von der Entwicklung des Individuums (Ontogenese). Genauer gesagt, geht es um das Frühlingserwachen der Sexualität. Was nun die wichtigsten Akteure und Requisiten der Handlung angeht, erübrigen sich umständliche Erklärungen. Der Apfel ist Symbol für geschlechtlichen Genuss. Die Schlange ist der Phallus, der den Genuss ermöglicht. Dass sie ein Eigenleben besitzt und als Verbindungsglied zwischen Adam und Eva fungiert, entspricht der menschlichen Erfahrung: Genau dieses Verbindungsglied ist der Phallus, und zwar nicht nur im körperlich-konkreten Sinn als Werkzeug beim Geschlechtsakt, sondern auch und gerade als symbolischer Gegenstand, der dem Jungen zwar anhängt, aber ebenso sehr dem Mädchen zugehörig ist, auf den sich mithin die Träume und Ängste pubertierender Jungen und Mädchen beziehen.
Im Mythos verführt Eva den Adam, sie übernimmt also den aktiven Part in dem Spiel, das zum Geschlechtsakt führt. Verwunderlich ist das nicht: Mädchen gelangen eher zur geschlechtlichen Reife als Jungen – im übrigen bestimmt auch die erwachsene Frau die Partnerwahl weit mehr, als es das Klischee vom männlichen Verführer nahelegt. Indem Adam der Verführung erliegt und das Paar die Wonnen des Geschlechtsakts durchlebt, vollzieht sich eine Wandlung: Adam und Eva haben sich erkannt, sie sind erwachsen geworden. Damit tritt eine Empfindung in ihr Leben, die sie als Kinder nicht gekannt haben. Sie schämen sich voreinander und bedecken ihre Blöße mit Feigenblättern. So natürlich, notwendig und zwangsläufig das ganze Geschehen aus der zeitlichen Distanz desjenigen erscheint, der im Alter darauf zurückblickt, so problembehaftet ist es doch für denjenigen, der das Drama gerade durchlebt. Wilde Hoffnungen verbinden sich mit dem Akt ebenso wie grauenvolle Befürchtungen und ungeheure Ängste. Inwiefern aber hat das alles mit Schuld zu tun?
Der Apfel der geschlechtlichen Lust hängt nicht in der Luft. Er ist eine Frucht des Baumes der Erkenntnis von Gut und Böse. Der Mythos verknüpft damit das geschlechtliche Erwachen mit der Genese der moralischen Wertungen. Auch dieses Motiv ist universell nachvollziehbar. Der Eintritt in die Erwachsenenwelt markiert eine Wende in der Intelligenzentwicklung. Der Kosmos der Kindheit zerfällt in die differenzierte Welt des Erwachsenen, der zu unterscheiden vermag – zwischen Mann und Frau, aber eben auch zwischen Richtig und Falsch, Rechts und Links, Gut und Böse. Das Kind, dem dieses Vermögen noch nicht zukommt, ist unschuldig. Der Erwachsene aber kann aufgrund eben dieses Vermögens zur Verantwortung gezogen werden, er ist schuld- und straffähig. Aus dem Paradies wird also nicht das naive Naturkind vertrieben, sondern der mündig gewordene Mensch. Die Strafe, die Gott für das Übertreten seines Gebots verhängt, mag allzu hart erscheinen, aber sie trifft immerhin keine Unschuldslämmer, sondern justiziable Personen.
Bleibt dennoch die Frage: Warum das Gebot? Warum nicht den Dingen, die ohnehin kompliziert genug sind, ihren Lauf lassen? Was ist das für ein Gott, der solch ein widernatürliches Gesetz erlässt?
Unverkennbar trägt dieser Gott im Mythos die Züge des Familienvaters. Ihm ist das Schicksal seiner Kinder nicht gleichgültig. Er sorgt sich um sie. Er möchte sie im Stand der Unschuld bewahren. Und zugleich weiß er, dass seine Bemühungen fehlschlagen müssen. Er selbst hat ja den Baum der Erkenntnis in den Garten Eden gepflanzt, also das Unvermeidliche bereits antizipiert. Was er weiß, will er jedoch nicht wahrhaben; was kommen wird, glaubt er abwenden zu können; das Leid, das er selbst ertragen müsste, bürdet er den Kindern auf. Durch sein Verhalten kommt das schlechte Gewissen in die Welt. Dennoch spiegelt die Geschichte in gewisser Hinsicht auch hier wieder nur den sozusagen normalen Gang der Dinge wieder: Erwachsenwerden impliziert die Lösung vom Elternhaus und dies geht nicht ohne gegenseitige Verletzungen ab.
Man könnte es dabei belassen, wäre da nicht der sperrige, unbequeme Begriff der Sünde. Genau dieser Begriff – der übrigens im Text gar nicht vorkommt – spielte in der Rezeptionsgeschichte des Mythos die entscheidende Rolle. Und zwar in verschärfter Form, als Erbsünde. Der Mensch als durch und durch verderbtes, sündhaftes Wesen, das der Erlösung bedarf: Das ist der zentrale Gedanke der jüdischen wie der christlichen Religion. Die Polarität von Sündenfall und Erlösungserwartung erzeugt Spannung und Unruhe. Letzlich wirkt sie als psychisches Treibmittel der Geschichte, ohne die die Dynamik der jüdisch-christlich geprägten europäischen Kultur nicht zu erklären ist. Dass die Spannung auch in einer säkularisierten Welt fortbesteht und zu weltbewegenden Theorien sich ausformt, zeigt das Beispiel Rousseaus und seiner Epigonen. Ob sie die Revision oder die Forcierung zivilisatorischen Fortschritts propagieren, das Ziel ist immer das gleiche: das Paradies als dem Menschen einzig angemessener Ort des Daseins.
Weitergehen, um nach Haus zu gelangen: Dieses Motiv verarbeitet Heinrich von Kleist in seinem berühmten Aufsatz „Über das Marionettentheater“. Dem Dichter geht es dabei nicht um die moralischen Aspekte des „Sündenfalls“, sondern sozusagen um die ästhetischen Auswirkungen der Vertreibung aus dem Paradies. Dem historischen Menschen mangelt es an Schönheit der Bewegung, ihm geht die tierische Grazie ab. Seltsamerweise findet sie sich allerdings bei gewissen Artefakten, etwa den Marionetten. Könnte es sein, so fragt Kleist, dass technisch-wissenschaftlicher Fortschritt uns am Ende doch wieder dorthin bringt, wo wir herkommen? „So findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins oder ein unendliches Bewusstsein hat, d. h. in dem Gliedermann oder in dem Gott.“