Techniker sind Realisten und Praktiker, aber sie sind nicht die Realisten und Praktiker schlechthin, als die sie sich oft ausgeben und von ihren Bewunderern wahrgenommen werden. Techniker sind Realisten und Praktiker besonderer Art. Als Realisten sehen sie die Welt, wie sie ist, aber nicht vornehmlich, um ihre Wunder zu bestaunen oder ihre Rätsel zu ergründen, sondern um ihre Mängel festzustellen. Als Praktiker handeln sie in der Welt, aber nicht vornehmlich, um Erfahrungen in ihr zu machen, sondern um Reparaturen an ihr vorzunehmen. Ihre Erfolge bei der Ausbesserung der Welt haben ihnen den Ruf von Wohltätern der Menschheit eingebracht. Deshalb regt sich kaum Widerstand gegen den technologischen Totalitarismus unserer Tage, der die Welt als einen Reparaturbetrieb ansieht, in dem buchstäblich nichts Bestand hat, nichts geschont wird und nichts heilig ist. Die Technikgläubigen sehen darin kein Problem. „Fürchtet euch nicht“, sagen sie mit dem wissenden Lächeln der Pfaffen. „Zwar verändert Technik die Welt, doch wir behaupten uns weiterhin darin!“ Das genau ist die Frage, der diese Kritik nachgeht. Sicher bleibt unsere Leistung im Getriebe des Fortschritts gefragt. Wir können der Motor sein. Wir können uns wichtig machen. Aber was werden wir uns wert sein – als Veränderer, die nichts gut sein lassen können?
Brauch und Brauchbarkeit
Genau genommen trifft der Ausdruck „die Welt“ die Sache natürlich nicht ganz. In Wirklichkeit wissen Techniker genausogut wie Physiker, Bauern und Stoiker, dass „die Welt“ in gewisser Hinsicht, als naturgesetzlich verfasster Kosmos nämlich, unverbesserlich ist. Im Reich der Natur hat man es mit unabänderlichen Gegebenheiten zu tun. Optimieren lässt sich allenfalls der Umgang mit diesen Gegebenheiten, der menschliche Zugriff auf die Natur, letztlich also „die Welt“ der Kultur. Technik ist eine Kulturveranstaltung. Und als solche ist sie der Magie näher als der Naturphilosophie. Denn technische Intelligenz hält sich nicht mit einer Kritik der Naturkräfte auf, sie richtet sich auf die effiziente Anwendung derselben. Sie hat nichts gegen Lasten, aber stört sich an der Mühe, die sie zuweilen machen. Sie hat nichts gegen die Schwerkraft, aber möchte sie womöglich austricksen. Das Mittel, mit dem die Technik die Schwerkraft austrickst, ist der Hebel.
Ob der als Hebel genutzte Stock das erste Werkzeug der Menschheit war, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass der Hebel mehr als ein Stock ist. Als mechanisches Kraftübertragungssystem ist er in so gut wie jeder Maschine wirksam. Und im übertragenen Sinn ist wohl jede technische Lösung ein Hebel, weil es in der Technik eben immer um ein Mittel oder eine Methode zur trickreichen Bewältigung praktischer Aufgaben geht. Dass Hebel nicht immer physikalistisch funktionieren, zeigt das Beispiel des Trojanischen Pferdes. Das Instrument, mit dem Odysseus, der erste Held der Technikgeschichte, die Trojaner austrickste, ist bekanntlich eine Attrappe, ein großer Schwindel.
Nichts desto trotz waren es wohl vor allem die physikalisch-mechanischen Tricks, denen die Technik ihre Reputation und ihren unaufhaltsamen Aufstieg verdankt. Nun machen sich Wagenrad und Mühlrad, Kummet und Pflugschar, Hammer, Amboss und Schwerter nicht im Handumdrehen. Die Fertigung solch kunstreicher „Hebel“ erfordert den Sachverstand und das Geschick von Experten. Handwerker nennen wir diese Experten im Deutschen, auf englisch heißen sie „craftsmen“, also Hersteller, oder „artisans“, also Künstler. Treffend wäre auch die Bezeichnung Techniker, denn das griechische „techné“ meint nichts anderes als „Kunst“.
Allerdings ist die Kunst, die unter den Händen dieser Techniker entsteht, alles andere als ein Produkt ungebundener Phantasie. In der Regel zumindest sind Handwerker ganz und gar traditionsgebundene Techniker. Sie fertigen ihre Schwerter, Truhen und Vehikel in herkömmlicher Weise nach vorgegebenen Mustern (selbst die „zweckfreie“ Kunst, die sich als Dekor über das Werkzeug ziehen mag, folgt vorgegebenen Mustern). Auch der Verwendungszusammenhang der Gebrauchsgegenstände ist traditionell geprägt. Das Gerät, das die Handwerker fertigen, dient immer denselben, klar umrissenen praktischen Zwecken. Trotzdem verändern sich die Dinge im Lauf der Zeit. Die Klingen werden schärfer, die Räder drehen sich leichter, die Mühlen mahlen schneller, die Technik entwickelt sich. Und zwar deshalb, weil das Handwerk zwar einerseits ein Hort der Tradition, aber andererseits auch ein hotspot passionierter Neuerer ist.
Was aber beschäftigt die Handwerker, wenn sie an Neuem tüfteln? Die praktischen Zwecke der Werkzeuge, deren Grundformen sich in unvordenklichen Zeiten herausgebildet haben, stehen nicht in Frage. Gras soll gemäht, Kleider sollen gewebt, Schwerter sollen geschmiedet werden. Und zwar soll das Gras in herkömmlicher Weise mit der Sense gemäht, die Kleider in herkömmlicher Weise mit dem Handwebstuhl und Schwerter in herkömmlicher Weise mit Hammer und Amboss geschmiedet werden. An den Gebräuchen kann und soll sich nichts ändern, zur Disposition steht allenfalls die Brauchbarkeit der Dinge. Verbesserungsfähig im Sinne etwa einer bequemeren Handhabung (Ergonomie), oder einer effizienteren Wirkungsweise (Funktion) ist allein das Werkzeug als solches.
Die Unterscheidung zwischen technischer Funktion und praktischem Zweck ist mir wichtig, weil erst sie, wie ich glaube, eine fundierte Kritik der technischen Vernunft ermöglicht.
Technik und Praxis
Unter der technischen Funktion eines Werkzeugs verstehe ich die rein instrumentelle Aufgabe, die es zu erfüllen hat. Die technische Funktion eines Messers etwa ist das Schneiden, egal ob Brot, Fleisch, Tomaten oder Kartoffeln geschnitten werden sollen. Nun lässt sich die Brauchbarkeit von Messern auf zwei Arten verbessern. Zum einen durch das Schmieden schärferer Klingen, zum anderen durch die zweckmäßige Gestaltung des ganzen Messers. Wenn wir im Alltag je nach Bedarf zum Brotmesser, Fleischmesser, Tomatenmesser, Schälmesser – oder eben zum Schleifstein greifen, zeigen sich im Gebrauch die unterschiedlichen Faktoren, die der Techniker beim Design seiner Produkte berücksichtigen und zusammenführen muss: Klinge und Heft bilden im Gebrauch eine Einheit und machen zusammen das Messer; technische Funktion und praktischer Zweck determinieren zusammen die Form des Geräts. Mit anderen Worten: Wer brauchbare Geräte erzeugen will, muss ein Meister der Materialbehandlung, aber auch ein Kenner der „Materie“ sein. Der Techniker muss die Zwecke kennen, für die er geeignete Mittel schafft.
Doch so sehr die Zweckbestimmung des Werkzeugs sein Tun auch inspirieren und kontrollieren mag, so verschieden ist seine Tätigkeit natürlich von den zweckbestimmten praktischen Handlungen selbst. Techniker machen Sensen, müssen aber kein Gras mähen. Sie schmieden Schwerter, müssen aber nicht fechten. Sie konstruieren Webstühle, müssen aber keine Kleider damit weben. Die Praxis als die Sphäre zweckbestimmten Handelns liegt so gesehen außerhalb der Zuständigkeit der Technik, die sich ausschließlich um die Bereitstellung geeigneter Mittel kümmert. Die praktische Frage lautet: Was tun? Die Technik fragt: Wie kann es getan werden? Der Philosoph Michael Hampe formuliert es so: „Das technische Wissen handelt von richtigen Mitteln, einen bestimmten Zweck zu realisieren. Das praktische Wissen ist eines über die Zwecke solchen Handelns selbst.“ [1] Technische Wissenschaft ist also frei in der Wahl der Mittel, jedoch zweckgebunden. Und der Zweck, um dessen Realisierung sie sich bemüht, ist ein bestimmter. Sie löst also aus dem komplexen Handlungsgefüge jeweils ein einzelnes Problem heraus, das sie mittels einer Methode zu „lösen“ versucht, die – im Gesamtzusammenhang betrachtet – nicht unbedingt vernünftiger oder humaner sein muss als herkömmliche Methoden, aber für sich genommen gewisse Vorzüge aufweist. Oft ist sie „einfacher“ im Sinne einer Minimierung des energetischen Aufwands bei der Abarbeitung einzelner Akte. Es geht um effizientes Sensen, effizientes Weben, effizientes Töten. Um das Erlebnis des Mähens, die Ästhetik des Webens und die Moral des Tötens geht es indes nicht. Technik blendet die Gefühle, die Gründe, ja, den größten Teil des Geschehens aus. Sie löst praktische Probleme, ist jedoch blind gegenüber der Praxis als solcher.[2]
Aber sie kann sie natürlich verändern. Solange jedoch die Zwecke, die sie sich vornimmt, einem überlieferten Repertoire entstammen, und solange die Mittel, die sie erzeugt, die Möglichkeiten der handwerklichen Tradition nicht übersteigen, wird sie die Praxis allenfalls marginal beeinflussen. Erst eine ingenieursmäßig betriebene Technik ist dazu in der Lage, traditionell geprägte Handlungsgefüge zu sprengen und substanziell zu verändern.
Lawinen gegen Lawinen
Auch Ingenieure sind Techniker. Aber ihr Zugriff auf die Dinge unterscheidet sich in mancherlei Hinsicht vom handwerklichen Tun der Schmiede, Baumeister und Stellmacher der alten Zeit. Ingenieure gehen systematisch ans Werk. Sie bauen Werkzeuge nicht auf herkömmliche Weise nach vorgegebenen Mustern, sondern entwickeln sie methodisch gemäß einem innovativen Design. Diese nicht mehr traditionsgebundenen Designs basieren auf analytisch oder experimentell gewonnenen Erkenntnissen über die funktionellen Potenzen von Materialien, Werkzeugen, Aggregaten oder ganzen Maschinen. Ingenieure sind wissenschaftlich informierte und inspirierte Experten der Funktionalität. Sie sind Technologen. Als solche stellen sie keine Sensen her, sondern entwickeln Mähvorrichtungen. Sie fertigen keine Schreibfedern, sondern Schreibmaschinen. Sie sind keine Baumeister, sondern Tragwerkkonstrukteure, Bauphysiker, Statiker, Heizungsbauer oder Haustechnikexperten.
Techniker richten das Mittel nach praktischen Zwecken aus, Technologen generieren darüber hinaus Anwendungen für technische Funktionen.
Sie tun dies mit einem im Vergleich zum Handwerker eingeschränkten Verständnis für praktische Belange. Wo der Handwerker immerhin einzelne Handlungen verstehend nachvollziehen muss (Gras sensen), um ein darauf abgestimmtes Werkzeug bauen zu können, blickt der Technologe lediglich auf isolierte Verrichtungen (Gras schneiden), um sie durch den Einsatz funktionaler Geräte effizienter zu machen. Die Lösungen des Handwerkers müssen praktikabel im Hinblick auf vorgegebene Handlungszusammenhänge sein. Die Lösungen des Technologen sind effizient im Hinblick auf Funktionszusammenhänge.
Ein historisches Beispiel für einen handwerklich kontrollierten Optimierungsprozess ist die Entwicklung der Schreibgeräte vom Griffel über den Federkiel bis zum Füllfederhalter. Verbesserungen – auch in Bezug auf die Vervielfältigung von Schriftstücken – werden hier unter Beachtung des vorgegebenen Handlungszusammenhanges des Schreibens erzielt. Johannes Gutenberg interessierte sich jedoch weder für den Akt des Schreibens noch für das Bild der Schrift, sondern richtete seinen Blick auf die bedeutungsdifferenzierende Funktion des Buchstabens in der geschriebenen Sprache – und konnte so den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfinden. Es ist der Eingriff in einen elementaren Funktionszusammenhang, der die kommunikationstechnische Revolution der Frühen Neuzeit auslöst. Die digitale Revolution beruht ebenfalls auf der ingenierwissenschaftlichen Isolation einer elementaren Funktion, nur ist das Element, mit dem Informatiker operieren, nicht das bedeutungsdifferenzierende Graphem, sondern das wertdifferenzierende Bit. Das Bit ist so etwas wie das Atom der Informationstheorie, weil die Einheit der Information (der Unterschied, der den Unterschied macht) sich mathematisch nicht radikaler formalisieren lässt. Anders als in der theoretischen Physik kann es in der Informationstheorie keinen Kosmos subatomarer Elementarteilchen geben. Dass die Informationstechnik dennoch fortschreitet, liegt daran, dass die Experten des Machens den Grenzen des Denkens alles andere als machtlos gegenüber stehen. So wie mit natürlichen Gegebenheiten gehen Ingenieure eben auch mit geistigen Gütern um – sie instrumentalisieren sie.
Ingenieurleistungen beeindrucken. Wer Berge verrückt, Stahl in die Lüfte hebt, Stimmen über Ozeane transportiert und sogar dem Tod die Stirne bietet, leidet keinen Mangel an Bewunderung. Wer wäre nicht hingerissen von den Künsten der Ingenieure! Wer wäre nicht versucht, ihnen die Lösung aller anstehenden Aufgaben anzuvertrauen! Doch Vorsicht. Der Glanz technologischer Lösungen überstrahlt ihre Problematik, und die rührt nicht von Anwendungsfehlern her, sondern liegt in der Natur der Sache. Das große Manko der Technologie ist ihre Befangenheit in Funktionszusammenhängen. Weil Ingenieure stets nur elementare Verrichtungen und nie komplexe Handlungen, geschweige denn das Ganze der Praxis in den Blick nehmen, lösen ihre Werke zwangsläufig eine Lawine von Folgewirkungen aus, die technologisch nicht anders unter Kontrolle zu bringen ist, als durch das Auslösen weiterer Lawinen. Eisenbahnen befördern Menschen, aber auch den Aufschwung der Kanonenindustrie. Automobile machen Freude, führen zu Verkehrsinfarkten, zerstören Städte und ruinieren das Klima. Flugzeuge sind ein Traum und eine Pest. Das Internet ist der schlaue, der hilfreiche, der allgegenwärtige, der Große Bruder.
Hätte der technologische Fortschritt ein Gesicht, wäre es weder eine niedliche Roboterfratze noch Darth Vaders unheimliche Helmmaske. Es wäre das kaputt optimierte Antlitz Michael Jacksons.