Gestalten Spatzen das Nest, das sie bauen? Gestalten Pflegeroboter den Umgang mit ihren Schutzbefohlenen? Sicherlich wäre weder die Tätigkeit des Vogels noch diejenige des Roboters ohne sensorisch kontrollierte Rückkopplung möglich. Trotzdem sprechen wir beiden, dem Spatz wie dem Roboter, die Gestaltungsfähigkeit ab – und mit Recht. Der Spatz käme nie und nimmer auf die Idee, ein doppelstöckiges Nest zu bauen. Der Roboter käme nie und nimmer auf die Idee, seine Schutzbefohlenen zu berauben. Beide leisten ganze Arbeit innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Die willkürliche Setzung des Rahmens ist dem Menschen vorbehalten.
Ontologische Differenz
Spatzen und Roboter unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht, aber auch grundlegend voneinander. Es besteht eine ontologische Differenz zwischen Tieren und Maschinen. Als unsere Mitgeschöpfe haben Tiere nicht nur einen Wert, sondern auch eine Würde. Maschinen dagegen mögen wertvoll sein, aber eine Würde kommt ihnen nicht zu. Man kann Maschinen kaputt machen, aber nicht töten. Trotz dieses fundamentalen Unterschieds wäre es ja denkbar, dass die »autonome« Maschine und das Tier bei der Bewältigung ihrer Aufgaben ähnlich vorgehen.
Jagdroboter und Jägersmann
Schauen wir uns zunächst die Automaten an. Ihnen wird die Fähigkeit der Mustererkennung zugesprochen. Es fragt sich allerdings, in welcher Weise ein Produktionsroboter sein Arbeitsstück oder ein Türöffnungssystem den richtigen Fingerabdruck »erkennt«. Auf den ersten Blick scheint etwas ganz Ähnliches zu geschehen wie bei der Wahrnehmung: Es findet ein Abgleich des sensorisch Gegebenen mit dem intern Gespeichten statt. Im Falle der autonomen Systeme findet sogar so etwas wie ein Lernprozess statt, weil jeder neue Mustereindruck das Musterreservoir des Speichers erweitert und modifiziert. Solche Systeme können nicht nur innerhalb des ihnen vorgegebenen Rahmens immer bessere Arbeit leisten, sie können den Rahmen auch erweitern. Aber können sie über ihn hinausschauen?
Denken wir uns einen Jagdroboter, der mit einem lernfähigen, auf Hirsche geeichten Zielerkennungssystem ausgestattet ist. Solch ein Gerät wird sich von Einsatz zu Einsatz besser darauf verstehen, zum Abschuss freigegebene Hirsche in freier Wildbahn auszumachen und anzuvisieren. Muss seinem sensorischen Apparat zu Anfang noch die gesamte Silhouette eines Tieres dargeboten werden, genügt vielleicht schon bald die aus einem Gebüsch ragende Spitze des Geweihs, um ein Objekt als Ziel zu identifizieren. Zweifellos würde es nicht lange dauern, bis der Roboter jedem menschlichen Jäger überlegen wäre, zunächst allerdings nur hinsichtlich der Hirschjagd. Der Jäger, der schließlich auch Hasen, Rebhühner und Rehe zu jagen imstande ist, hätte der Maschine immer noch sehr viel voraus. Aber kann er sich seines Vorsprungs wirklich sicher sein? Hat nicht der Roboterhersteller bereits die Markteinführung des Modells 2.0 für die nächste Jagdsaison angekündigt? Ganz gewiss hat er es. Und Lernprogramm, Datenbank und Sensorium dieses Automaten sind eben so ausgelegt, dass er auch Hasen, Rebhühner, Rehe und Füchse zu erkennen und zu jagen vermag. Und das bereits in der Testphase befindliche Modell 3.0 spürt getötete Tiere auf, Modell 4.0 waidet sie aus, Modell 5.0 liefert zwischendurch »schöne Ausblicke«, so dass der Jäger an seinem häuslichen Bildschirmarbeitsplatz nicht immer nur den Tod, sondern auch mal etwas Erfreuliches vor Augen hat.
Und so geht es weiter. Mit jedem neuen Modell erweitert sich das Fassungsvermögen des Roboters, der auf den Jäger nur noch insofern angewiesen bleibt, als es schließlich jemanden geben muss, der das Gerät bzw. seine Programmerweiterungen kauft.
Doch trotz der professionellen Überlegenheit der Maschine wird es sich der Jäger vermutlich nicht nehmen lassen, hin und wieder auf die Pirsch zu gehen. Ganz einfach deshalb, weil die Jagd ihm Freude bereitet. Und es war nie das Aufspüren der Beute und das Töten allein, das ihn in die Wälder zog. Nie saß er ausschließlich als Jäger auf seinem Hochsitz. Er konnte sich dort mit allem Möglichen beschäftigen: mit dem Spinnennetz im Morgenlicht, mit den Blumen auf der Waldlichtung, mit dem Geruch, der Idee, der Musik und der Mystik des Waldes. Er konnte sich in Ruhe mit seinen Geldproblemen beschäftigen oder mit seinem Penis. Er konnte den Hirsch, der ihm vor die Flinte lief, nach Belieben verschonen, weil er ihm zu jung erschien oder zu schön oder zu gewaltig. Ja, einmal hatte er ein Tier verschont, weil ihm bei seinem Anblick ein Schauer über den Rücken gelaufen war. Er hatte es niemandem erzählt, und wie auch! Hatte er doch in den Augen des Tieres Gott gesehen.
Zum Sehen Gottes begabt
Ich will damit sagen: Maschinen mögen fähig sein, den Rahmen ihrer Tätigkeiten selbstständig zu erweitern, aber sie agieren stets innerhalb dieses Rahmens. Für die Systeme der künstlichen »Intelligenz« – einschließlich des Internet – gibt es kein Plus Ultra. Nur welthaltigen Lebewesen wie uns ist die Freiheit gegeben, über alles hinaus zu gehen, was wir uns vorgenommen, vorgestellt oder vorgemacht haben. Nur wir können die Grenzen, die wir uns nach Belieben ziehen, auch nach Belieben überschreiten. Moralisch gesprochen, sind wir imstande unser Leben zu ändern. Wahrnehmungstheoretisch gesprochen, sind wir fähig unsere Augen zu öffnen. Theologisch gesprochen, sind wir zum Sehen Gottes begabt.
»Intelligente« Systeme dagegen operieren sozusagen immer innerhalb des Raums, den Ludwig Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus für das Denken aufgespannt hat. Dieser Raum ist zwar in dem Sinne grenzenlos, als kein denkendes Wesen ihm eine Grenze ziehen kann (»denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze denken können; wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt«), aber er besitzt die Struktur eines Sprachraums und findet in der Beschränktheit der Sprachlogik eben doch eine Grenze. »Was jenseits dieser Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein«, sagte Wittgenstein.
Entsprechendes gilt für alle denkbaren KI-Systeme: Was jenseits ihres Operationsfelds liegt, ist Unsinn. Weniger noch, es existiert nicht. Mit der Mustererkennung der »intelligenten« Systeme hat es darum folgende Bewandtnis: Auf der Basis gespeicherter Datenkonfigurationen (interne Muster) sowie programmierter Auswahlkriterien und Verarbeitungsmethoden (Algorithmen) vermag das System im Bereich der sensorisch erfassten Außenwelt zwar bestimmte Phänomene abzusondern, deren Konfigurationen mit den internen Mustern entweder vollkommen oder teilweise übereinstimmen. Das Besondere an diesen Phänomenen ist aber, dass sie nur Muster sind und nichts darüber hinaus. Von der Fingerkuppe, den das Türöffnungssystem abtastet, wird lediglich das Liniengeflecht erfasst, das wir Fingerabdruck nennen. Was einen menschlichen Betrachter darüber hinaus beeindruckt: der Dreck unter den Fingernägeln, die gelbliche Hornhaut, der Charakter oder die Symbolik der »Fingerspitze« – ist für das künstliche System nichts. Der Sinn des Arbeitsstücks ist für den Fertigungsroboter nichts. Der Mensch ist für den Pflegeroboter nichts.
Von Heuhaufen, Nadeln und Mädchen
Computersysteme sind in der Welt, aber die Welt ist nicht in ihnen. Um zu erklären, was solche Maschinen zu ihren erstaunlichen Leistungen befähigt, muss man sich näher anschauen, was denn überhaupt in ihnen ist. Man muss den Sprachraum untersuchen, der sie ausmacht. Nun ist der Sprachraum eines Computers bestimmt durch Programme. Programme aber sind nichts anderes als Folgen von Algorithmen, und ein Algorithmus ist bekanntlich ein Verfahren zur schrittweisen Lösung von Rechenaufgaben. Dabei werden Zahlenwerte nacheinander einer Rückkopplungsschleife zugeführt, in der geprüft wird, ob der Wert eine bestimmte, für die Lösung relevante Bedingung erfüllt oder nicht. Am Ende der Prozedur sind alle Werte entweder ausgeschieden oder nicht, wobei die nicht ausgeschiedenen Werte die Lösung darstellen (meistens setzt sich ein Algorithmus aus mehreren solcher einfachen Module zusammen, vgl. z.B. das Lösungsverfahren der »schriftlichen Division«, das wir in der Schule gelernt haben).
Ein Beispiel zur Veranschaulichung: Wenn wir das Problem, eine Stecknadel im Heuhaufen zu finden, algorithmisch lösen müssten, würden wir ganz stur einen Halm nach dem anderen zur Hand nehmen und daraufhin prüfen, ob es sich um einen metallischen Gegenstand handelt oder nicht – eine Prozedur, die unter Umständen sehr langwierig ist, dafür aber garantiert zum Erfolg führt.
Algorithmen sind sehr vielseitig einsetzbar, weil sich zahlreiche Probleme des Alltags und der Wissenschaft in Teilprobleme zerlegen lassen, die stur und schematisch – also letztlich rechnerisch – gelöst werden können. Dabei wächst das Anwendungsspektrum naturgemäß in dem Maße, wie sich Speicherkapazität und Rechengeschwindigkeit steigern. Bekanntlich ist der Fortschritt in beiden Bereichen gewaltig. Wären Grashalme Zahlen, würde ein moderner Computer die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen sogar dann schneller finden als ein Mensch, wenn dieser sie per Zufall umgehend entdeckte. Zweifellos besitzen Rechenmaschinen also übermenschliche Fähigkeiten. Und weil das Rechnen bei den Menschen seit eh und je in hohem Ansehen steht, bewundern viele Zeitgenossen die Rechenkünste moderner Maschinen so sehr, dass sie Zeichen für eine generelle Überlegenheit erblicken wollen, wo tatsächlich immer nur spezielle Leistungen erbracht werden.
Diese Zeitgenossen scheinen es als einzige dem Menschen verbleibende Aufgabe anzusehen, einer halluzinierten Supermaschine zuzuarbeiten. Sie begreifen sich nurmehr als Datenzuträger (Konsumenten), Entwicklungsgehilfen (Ingenieure) oder Propagandisten (Internetintellektuelle) der Maschine. Sie haben sich aufgegeben. Sie machen mit Stecknadeln herum und vergessen die im Heuhaufen versteckte Geliebte.
Über Pointen. An dieser Stelle der Darstellung eine »Geliebte« ins Spiel zu bringen, hat sich ergeben. Die Pointe war nicht geplant, nicht konstruiert. Dass sie mir einfallen würde, war nicht vorherzusehen. Andererseits muss ich zugeben, dass die Idee des Mädchens nicht von ungefähr kommt, denn sie lag spätestens seit der Erfindung des Heuhaufen-Beispiels in der Luft: Wie die Stecknadel, die man zu suchen hat, gehört auch das Mädchen, das man zu finden hofft, zum semantischen Feld des »Heuhaufens«. Dieses Mädchen erschien mir in dem Moment, als ich dabei war, den uns allen bekannten Typus des bis zur Selbstverleugnung konsequenten Rationalisten an den Rand seines eigenen Abgrunds zu führen. Ich hätte ihn dort stehen lassen können. Ich hätte ihn auch hinunterschubsen können. Das wäre freilich weder für ihn noch für den Leser ein schönes Ende gewesen. Das Mädchen lässt das Ende leuchten. Und zwar nicht allein deshalb, weil ein Mädchen eben schön und eine Stecknadel nur nützlich wäre. Sondern weil die überraschende Hinwendung zu etwas ganz anderem schlaglichtartig verdeutlicht, was uns als Menschen auszeichnet. Es ist die durch unsere Welthaltigkeit ermöglichte Fähigkeit zum urplötzlichen Perspektivenwechsel und Sinneswandel. Wir können Pointen setzen – und zwar deshalb, weil wir bei der Gestaltung nicht in Programmschleifen gefangen sind, sondern uns immer im Freien und unter dem beständigen Einfluss eines wetterwendischen Ganzen auf ein unbekanntes Ziel zubewegen – und mit dem Ganzen ist hier nicht etwa nur der Heuhaufen gemeint, sondern natürlich die Idee von der im Eindruck anwesenden Welt.
Der Spatz und seine Welt
Da Computersysteme es mit standardisierbaren Problemen zu tun haben, die immer fest stehen (wo ist die Nadel?), kommen sie mit Algorithmen zum Ziel. Da wir es als Gestalter mit offenen Fragen zu tun haben, die sich überhaupt erst im Zuge ihrer Beantwortung konkretisieren (was birgt der Heuhaufen?), können wir nicht algorithmisch vorgehen. Der Unterschied der Vorgehensweisen zeigt sich in den verschiedenartigen Instanzen der sensorisch kontrollierten Rückkopplung. Während die Wechselwirkung beim Algorithmus zwischen Elementen und Programmschleifen (Abfragen) erfolgt, so sind es bei der Gestaltung Akt und Idee, die sich wechselseitig modifizieren. Ein Ganzes frei entwerfen und realisieren zu können, ist dem Menschen vorbehalten.
Doch die freie Setzung des Rahmens und die kreative Gestaltung seines Inhalts ist dem Menschen keineswegs unter allen Umständen möglich. Innere Freiheit bedarf des offenen Raums. Möglichkeit setzt Wirklichkeit voraus. Gestaltung setzt Wahrnehmung voraus. Ohne den Eindruck, in dem die Welt anwesend ist, hätten sich Kreativität und damit Intelligenz nie entwickeln können. Der erste Mensch war die Kreatur, die das Mögliche im Wirklichen entdeckte. Der letzte Mensch ist der Kreative, der das Wirkliche allein im Möglichen sucht. Er begibt sich des Anderen der Freiheit. Er ängstigt sich im Freien. Er schließt das Tor. Unbeeindruckt von der Welt vertut er sein Leben im Kerker der Machbarkeit. Wenn wir das nicht wollen, dürfen wir die Verbindung mit der natürlichen Welt nicht abreißen lassen. Wir bedürfen der Religion. Wir bedürfen ihrer zur Bewahrung der Freiheit, die darin liegt, eine Welt im Auge zu behalten, die nicht von uns und nicht für uns, sondern für sich selbst gemacht ist.
Der Spatz schweigt dazu. Sein Raum ist offen wie der des ersten Menschen. Doch obwohl er das Ganze im Auge hat, begnügt er sich stets mit seinem Teil. Für ihn fallen Möglichkeit und Wirklichkeit zusammen. Er hat keine Ideen, dafür kennt er seinen Platz. Vielleicht ist das Religion: seinen Platz zu kennen – und einzunehmen.