Polarisierung ist normal. Wo zwei zusammenkommen, setzen sie sich auch auseinander. Kein Problem, solange sie an einem Tisch sitzen. Was aber, wenn das Mobiliar zerschlagen, das Tafelsilber verkauft, das Haus verwüstet und die Landschaft verschandelt ist! Was, wenn sie dahin sind: die unstrittigen Gegebenheiten, die geschichtlich verbürgten Tatsachen, die niemals hinterfragten Naturschönheiten! Es fehlt dann der verbindliche Rahmen, in dem selbst unmögliche Figurenkonstellationen ein Bild ergaben. Wo es keine gemeinsamen Grundanschauungen und geteilten Grunderfahrungen mehr gibt, zerfällt auch die komplexe Einheit polar aufeinander bezogener Positionen. Die Spannung reißt ab. Koexistenz schlägt um in absolute Feindschaft. Von wegen Weiß und Schwarz, Rechts und Links, Du und ich! Es kann dann nur noch EINES geben!
Binäres Denken
Polarität setzt das Vorhandensein einer Welt voraus, deren Elemente (Tatsachen, Werte, Kulturen) zwar in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen mögen, aber bei aller Gegensätzlichkeit einem gemeinsamen Ganzen angehören. Zerbricht die gemeinsame Welt, verwandeln sich relative Gegensätze in absolute Widersprüche. Orientierung bietet dann nur noch die binäre Logik, so dass wir ständig zwischen wahr und falsch, gut und böse, ja und nein entscheiden müssen. Alles Reale ist dann mit Wahrheitswerten ausgezeichnet, zwischen denen jeweils ein Abgrund vollkommener Sinnlosigkeit klafft. In der binären Bit-Wirklichkeit haben wir es also genau genommen nur noch mit Etiketten zu tun. Wir stellen uns entweder als Männer oder Frauen, Schwarze oder Weiße, Reiche oder Arme vor – jedoch nicht mehr als unverwechselbare Individuen und auch nicht mehr als überindividuelle Gattungswesen. Die binäre Logik zwingt uns zu eindeutigen Entscheidungen und pauschalen Identifikationen. Sie verwandelt uns in hasserfüllte Jasager.
Verödete Medienlandschaft
Viele aktuelle politische Debatten spalten das Publikum in einer Weise, dass kein Raum mehr für Fragen, Zweifel und Diskussionen bleibt. Die bekanntesten Stichworte lauten »Klima«, »gendergerechte Sprache« »Migration« oder »Corona«. Fällt einer dieser Begriffe, identifizieren wir uns oft reflexartig mit jeweils einer von genau zwei Positionen. Man ist für oder gegen eine kompromisslose Klimapolitik, für oder gegen konsequentes »Gendern«, für oder gegen eine restriktive Migrationspolitik, für oder gegen ein paternalistisches »Corona«-Management. Zur Sicherung des eigenen Standpunkts versammeln sich die Gleichgesinnten in medialen Echokammern, in denen sie keinerlei Widerspruch fürchten müssen. Vermittelnde Instanzen gibt es kaum noch. Selbst die großen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben sich in Echokammern verwandelt. Die Medienlandschaft, einst Schauplatz und Schlachtfeld demokratischer Willensbildung und Streitkultur, bietet ein trostloses Bild. Überall herrscht der Zwang zur unbedingten Identifikation, der binären Ordnungen eigen ist.
Pauschale Verurteilungen
Die aktuellen Spaltungstendenzen geben auch deshalb Anlass zu größter Besorgnis, weil sie die Ausbildung von Reinheitsfiktionen befeuern, die wiederum zum Fanal totalitärer Bewegungen werden können. Man beachte in diesem Zusammenhang die neue Bereitschaft zur kompromisslosen Härte, die sowohl im wissenschaftlichen als auch im identitätspolitischen Milieu um sich greift, wenn es darum geht, Gegner aus dem Weg zu räumen (Cancel Culture) oder ganze Bevölkerungsgruppen als „absterbende Klassen“ zu markieren (Weiße, Männer, Impfgegner, Klimaprognosenskeptiker etc.). Unheimlich an diesem Vorgehen ist das Prinzip der Selektion. Es regiert der unerbittliche Pauschalismus der binären Logik. Maßgebend für inklusive oder exklusive Maßnahmen sind Etiketten, Framings, Zuschreibungen. Menschliche Wesen kommen eigentlich gar nicht mehr in Betracht.
Das Ende der Natur
Die Rechthaberei der Ideologen grassiert, wo man sich auf keine gemeinsame, durch Evidenz gesicherte Basis schlechthin wahrer Gewissheiten mehr verständigen kann. Es fehlen die von allen geteilten Grundüberzeugungen hinsichtlich der Natur der Dinge. Natur ist nicht mehr die Instanz, die »immer recht hat«.
Nicht erst Rousseau betrachtete die Natur als das Urbild unverfälschter Realität, das durch zivilisatorische Eingriffe nur Schaden nimmt und immer weiter entstellt wird. Das »Unbehagen in der Kultur« geistert spätestens seit der Neolithischen Revolution vor rund 12000 Jahren durch die Weltgeschichte. Dass alle Kultur ein zweifelhafter Gewinn ist, erkauft durch Abfall von urspünglicher Wahrheit und daher belastet mit dem Fluch ewiger Unsicherheit und Unzulänglichkeit, wussten beispielsweise schon die Erzähler der biblischen Geschichte vom Sündenfall, die das paradiesische Leben im Garten Eden bekanntlich mit der Mühsal und den Bitternissen des agrikulturellen Daseins kontrastierten.
Auch die meisten Philosophen der Antike priesen Natürlichkeit als Inbegriff des guten Lebens. Wer etwa inmitten der Dekadenz des antiken Roms ein wahrhaftiges Leben führen wollte, dem empfahlen die Stoiker, sich ein Beispiel an der Natur zu nehmen, deren »Willen« man laut Epiktet »an den Dingen erkennen kann, über die keine Meinungsverschiedenheit unter uns herrscht«. Genau diese Dinge gibt es nicht mehr. Müssen Menschen sterben? Gibt es natürliche Geschlechter? Sind es zwangsläufig die Frauen, die Kinder kriegen? Sind die Menschen eingebunden in kosmische Rhythmen oder können sie sich daraus »befreien«? Über all diese Fragen lässt sich heute streiten.
Das Ende der Geschichte
Aber nicht nur die Natur ist eine fragwürdige Kategorie geworden, sondern auch die Geschichte. Der Mensch, heißt es etwa bei Roland Barthes, sei dasjenige Wesen, das Natur in Geschichte verwandelt. Hegel verband diese Transformation mit einer Subjektwerdung der Vernunft: Indem wir Geschichte machen, verwirklichen wir uns in immer höherem Maße. Aber stimmt das noch in Zeiten »autonomer Technik«? Technikkritiker wie Günther Anders bezweifelten bereits vor 70 Jahren, dass der Mensch noch Subjekt – also selbstbestimmter Gestalter – der Geschichte sei. Insofern wir nur noch reaktiv vollbringen, was die autopoëtisch sich entwickelnden »Systeme« uns abverlangen, liegt das »Ende der Geschichte« wohl tatsächlich längst hinter uns.
Dass wir in nachgeschichtlichen Zeiten leben, merkt man auch daran, dass kaum noch jemand historisch denkt. Beim Nachdenken darüber, wer ich bin, zählt die Frage, wie ich der geworden bin, der ich zu sein scheine, kaum noch. Im Fokus steht vielmehr die Frage, was ich werden könnte. Ich mache aus mir, was ich aus mir machen kann. Machbarkeit ersetzt Subjektivität. Geschichte verliert dadurch ihre bindende Kraft. In ihr suchen und finden die jüngeren Zeitgenossen keine Motive für die Gestaltung der Zukunft mehr. Als Ersatz für historische Motive bringen sie wissenschaftliche (Verhaltens)-Modelle und mythische Erzählungen ins Spiel. Sie haben aufgehört, Natur in Geschichte zu verwandeln. Vielmehr verwandeln sie Geschichte in maschinengenerierte Modelle und maschinenlesbare Mythen.
Das Ende der Poesie
Sprechen wir überhaupt noch dieselbe Sprache? Wer heute den Mund aufmacht, redet meist einem von zwei erkenntnistheoretischen Dogmen das Wort. Konstruktivisten begreifen die lebendige Sprache lediglich als Zuschreibungssystem (Verabsolutierung von Setzungen), Naturalisten lediglich als Mitteilungssystem (Verabsolutierung von Fakten). Jene nutzen die Sprache als Waffe im identitätspolitischen Machtkampf, diese instrumentalisieren sie zum Zweck einer »faktenbasierten« Dehumanisierung des Menschengeschlechts. Beide zerstören sie.