Editorial

Nach Monaten einsamen Schaffens melde ich mich zurück auf dem Großmarkt des Halbwissens und der Meinungsmoden. Mein neues Angebot heißt „Les Jeux Sont Fait“ und ist ein recyceltes Abfallprodukt der Arbeit an meinen jüngst fertiggestellten Buch „Maxine oder Das Reh der Erkenntnis“. Im Essay – und im Buch – geht es um den Kontrast zwischen polarer Wirklichkeit und binärem Denken. Voilà.

Les Jeux Sont Fait

Wenn wir die Globalisierung als ein Spiel ansehen, in dem es Gewinner und Verlierer gibt, ist das zunächst einmal nicht böse, sondern sachlich gemeint. Wir stellen ganz einfach fest, dass beispielsweise nicht alle Erdenbewohner gleichermaßen von der Entgrenzung der Finanzmärkte profitieren oder nicht alle Völker den gleichen Nutzen aus der Liberalisierung des Welthandels ziehen. Manche player ergreifen ihre Chance, andere verpassen sie; einige kommen zu Wohlstand, andere geraten in Armut. Genau diesem Umstand tragen wir Rechnung, wenn wir die einen als »Gewinner« und die anderen als »Verlierer« bezeichnen. Der Gegensatz… mehr

Brian Wilson zum Achtzigsten

Am 20. Juni feierte der geniale Kopf der Beach Boys seinen achtzigsten Geburtstag. Ich gratuliere mit einem Beitrag über den Klassiker „Heroes and Villains“. Zu der bereits 2013 verfassten Interpretation noch ein paar Vorbemerkungen: Die meisten klassischen Popsongs bleiben, was sie sind, auch wenn die Industrie alle paar Jahre ein frisch remastertes Update vorlegt. Heroes and Villains dagegen ist eigentlich bis heute ein Work in Progress geblieben, und die zahllosen Remix-Collagen, die inzwischen verfügbar sind, stellen lediglich Versuche dar, dem Ganzen eine endgültige Form zu geben. In meiner Interpretation stütze ich mich im Wesentlichen… mehr

Heroes and Villains

Paul Williams liebte den Song über alles. In „Rock And Roll: The 100 Best Singles“ schrieb der im März 2013 verstorbene Musikjournalist: „,Heroes and Villains‘ klingt wie ein reißender Wildbach. Es klingt so, wie wir die Natur hören, sehen, riechen und schmecken, wenn wir uns in sie hineinbegeben und uns ganz auf ihre Wunder einlassen. Es fließt und tanzt.“ Das große Publikum beurteilte das Wunderwerk der Beach Boys, das Williams sogar ihrem fulminanten, immergrünen Welthit „Good Vibrations“ vorzog, zunächst einmal völlig anders: Die Ende Juli 1967 veröffentlichte Single floppte ebenso… mehr

Ästhetik I bis V

Ästhetik (von griechisch aísthēsis, Wahrnehmung, Empfindung) war bis zum 19. Jahrhundert vor allem die Lehre von der Schönheit in Natur und Kunst. Unter den Begriff fällt aber auch das Nachdenken über die Wahrnehmung als solche. Das Ergebnis meines Nachdenkens über dieses Thema können Sie in den fünf folgenden Beiträgen lesen: Vom Eindruck, Von Wahrnehmungsbegriffen, Wissenschaft und Kennerschaft, Rezeption und Gestaltung, Spatzen und Roboter.

I. Vom Eindruck

Wenn ich etwas Bestimmtes wahrnehme, zum Beispiel einen Stern am Nachthimmel, einen Flötenton in der Stille oder einen leichten Benzingeruch im Auto, dann sind es zwar meistens die vor den jeweiligen Kulissen sich abzeichnenden Figuren, die mich beschäftigen, doch bleiben die Hintergründe für die Deutung des wahrgenommenen Phänomens von Belang. Ob ein Stern am realen Himmel oder auf einer Kinoleinwand leuchtet, macht einen Unterschied. Ob eine Flöte in der Küche oder in einer Kathedrale ertönt, spielt eine Rolle für das Musikerlebnis. Auch beim Benzingeruch entscheidet die situative Konstellation über die… mehr

II. Von Wahrnehmungsbegriffen

Im landläufigen Sinne ist Wahrnehmung der »Prozess und das Ergebnis der Informationsgewinnung und -verarbeitung von Reizen der Umwelt«. Genauer gesagt geht es um das »Filtern und Zusammenführen von Teil-Informationen zu subjektiv sinnvollen Gesamteindrücken«. Die Eindrücke werden »laufend mit den als innere Vorstellungswelt gespeicherten Konstruken oder Schemata abgeglichen.« Diese aus dem entsprechenden Wikipedia-Artikel entnommene Definition stellt den Eindruck nicht an den Anfang des Wahrnehmungsprozesses, sondern an sein Ende. Wahrnehmung wird als ein Geschehen aufgefasst, dass induktiv von Elementen (Reize, Informationen) über Zwischenstufen zum Ganzen (Gesamteindruck) fortschreitet. Abgesehen von diesen meiner Ansicht… mehr

III. Rezeption und Gestaltung

Wenn sie lediglich der Orientierung in der Umwelt dient, ist Wahrnehmung ein flüchtiges Geschehen, das sich mit dem Verfertigen gröbster Gesamteindrücke begnügt, die oftmals noch nicht einmal ins Bewusstsein gelangen. Jederzeit kann dieses flüchtige Geschehen jedoch einen Halt finden an Ganzheiten, die aus irgendeinem Grund (Gefahr, Liebreiz, Interesse) intensiver wahrgenommen werden. Dieses intensivere Erfassen einer Ganzheit – sei es eine menschliche Gestalt, ein Gesicht, eine Landschaft oder ein Artefakt – nenne ich Rezeption. Analyse klärt Dinge, indem sie von ihnen absieht Rezeption unterscheidet sich fundamental von der analytischen Untersuchung. Bei… mehr

IV. Wissenschaft und Kennerschaft

Schwarzafrikaner unterscheiden sich allein aufgrund ihrer dunklen Hautfarbe extrem von den hellhäutigen Menschen, deren Physiognomien mir seit meiner Kindheit vertraut sind. Hinzu kommen, je nach Herkunft des Schwarzen, mehr oder weniger ausgeprägte negroide Züge, die seine Physiognomie unter Umständen noch fremdartiger wirken lassen. Wenn solch ein Mensch nun Französisch oder Suaheli spricht, dann nehme ich ihn umso deutlicher als Fremden wahr. Spricht er gebrochen Deutsch, tritt die Fremdheit sogar noch stärker hervor. Spricht er aber so perfekt Deutsch wie ein Muttersprachler, passiert manchmal etwas Verblüffendes: Das Gesicht des Schwarzen erscheint… mehr

V. Spatzen und Roboter

Gestalten Spatzen das Nest, das sie bauen? Gestalten Pflegeroboter den Umgang mit ihren Schutzbefohlenen? Sicherlich wäre weder die Tätigkeit des Vogels noch diejenige des Roboters ohne sensorisch kontrollierte Rückkopplung möglich. Trotzdem sprechen wir beiden, dem Spatz wie dem Roboter, die Gestaltungsfähigkeit ab – und mit Recht. Der Spatz käme nie und nimmer auf die Idee, ein doppelstöckiges Nest zu bauen. Der Roboter käme nie und nimmer auf die Idee, seine Schutzbefohlenen zu berauben. Beide leisten ganze Arbeit innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Die willkürliche Setzung des Rahmens ist dem Menschen vorbehalten.… mehr