„Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden, viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung“, sagt der Romantiker Friedrich Schlegel. Wir produzieren Scherben, heißt das. Unsere Sachen sind von Anfang an kaputt. Es heißt aber auch: Unsere Sachen sind Bruchstücke vom Ganzen. Es liegt nicht in unserer Hand, aber es ist da: „Das Höchste ist das Verständlichste, das Nächste, das Unentbehrlichste“, sagt Novalis.
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„Angeblich wächst die Sentimentalität im Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet.“ Wolfgang Herrndorf (1965–2013)
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Es ist immer gut gewesen, in den Fluss zu springen. „Die Welt sieht gleich ganz anders aus, Junge.“ Deshalb sollte ich auch jetzt, nahe der Mündung, die mörderische Brühe vor Augen, nicht zögern und springen. „Lass uns wegdriften!“ Aber ich weiß nicht. Ebensogut könntet ihr an Land kommen. Wir könnten ein Feuer machen, aufs Meer rausschauen. Und morgen in aller Frühe aufbrechen.
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Alle Welt wird bürgerlich. Ein furchtbarer Gedanke. Die ewige Betriebsamkeit und Verbesse-rungswut. Die agonale Ich-mach-dich-platt-Mentalität. Der verlogene, alle Konfessionen überwölbende Taoismus von Geld und Geist. Die Deutsche Ideologie. Der als Realitätssinn oder Vernünftigkeit getarnte Faschismus gegen die eigene Natur. Das engherzige BWLertum. Der Wissenschaftsfatalismus. Der Technikmasochismus. Der kunstmarktkonforme Kunstsinn. Die frigiden Häuser. Das abstrakte Leben. Dieses restlos enteignete Agentendasein, in das ihr euch hineingesteigert habt!
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Was heißt hier Bürgertum! Wir haben das Freikorps der Funktionseliten, den Tross der willigen Mittelschicht und die Masse der umsorgten und umworbenen, sedierten oder aufgeputschten Konsumenten. Wir haben Treiber, Getriebene und den permanenten Rollentausch von beiden. Wir haben den Tempokitzel und die Bewegungsangst der ,riskanten Moderne‘ (Paul Nolte). Es gibt jede Menge Probleme. Der Bürger und das Bürgerliche gehören ganz gewiss nicht dazu. Sag Silicon Valley. Oder Geldwirtschaft. Oder System. Allerdings wären das immer die anderen. Bürger sind wir alle, die wir als Kostgänger hinter Mauern leben – ohne Sinn für den Segen der Erde.
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J. W. Goethe: „Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich. Es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam. Aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.“
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Einst war Lawrence Spinetta ein Jäger. Sein geflügeltes Ross war der Kampfjet „F-15“. Heute befehligt der Mittvierziger einen Luftwaffenstützpunkt in North Dakota, auf dem ausschließlich Drohnen vom Typ Global Hawk stationert sind. „Das richtige Fliegen fehlt mir“, gesteht der Oberst einem Journalisten von der FAZ. Aber das sei kein Grund, den Fortschritt aufzuhalten. Der Global Hawk könne besser landen als er, der es jahrelang geübt und perfektioniert habe. „Ich kann Ihnen die Handhabung der Technik an einem Nachmittag beibringen“, sagt Lawrence in einem Ton, der begeistert und resigniert zugleich klingt.
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Der Designer Edward Linacre zeigt mir Bilder seiner neuesten Entwürfe auf dem iPhone. Er redet von Nachhaltigkeit. Die Dinge sollen schön altern, damit man sie lange benützt und gern bewahrt. Lampen, Körbe und Tische fliegen unter meinen Augen vorbei. Ob der Mann spürt, dass die Präsentationsform ihn gerade widerlegt? Jedenfalls beginnt er unvermittelt auf Smartphones zu schimpfen. Sie sind so fragil, sie gehen so schnell kaputt. Ganz anders sein gutes, altes Nokia-Handy. Unverwüstlich! Ein Gerät für die Ewigkeit!
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David Byrne („Remain In Light“) macht sich in der Süddeutschen Zeitung Gedanken zum Für und Wider von Musikstreaming-Diensten. Zwischen allen Zeilen spürt man den hellwachen Sinn des Verfassers für das Risiko, das er eingeht, wenn er sich skeptisch äußert. Er weiß, dass er seinen Ruf als cooler Gegenwartskünstler mit einem einzigen unbedachten Wort ruinieren kann. Er darf Trends beschreiben, Entwicklungen kritisieren, Perspektiven aufzeigen, sogar Ratlosigkeit bekunden. Aber er darf nicht nein sagen. Jedenfalls nicht unumwunden. Deshalb legt er das Nein einem anderen in den Mund und zitiert den Musiker David Lowery: „Wie Lowery schon gesagt hat, es gibt keinen Grund, dass Künstler (…) jede Technologie gutheißen.“ Ein ketzerischer Gedanke, der sofort selbstironisch relativiert werden muss: „Jetzt beginne ich, wie ein echter Spießer zu klingen …“. – Auf englisch bezichtigt sich Byrne übrigens als „luddite“ (Maschinenstürmer). Warum nicht gleich „sinner“!
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Ein Zug ist entgleist, Hunderte fanden den Tod. Erleichtert nehmen wir die Nachricht vom Blackout des Zugführers zur Kenntnis. Zum Glück kein Maschinenschaden, kein Systemfehler! Menschliches Versagen passt uns in den Kram. Wir können weitermachen. Noch ein paar Jahre, und der menschliche Faktor ist ganz ausgeschaltet.
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Donnernder Applaus für die Kinder, den Kantor und die Regisseurin des Krippenspiels. Wie süß die Engel wieder waren. Die reizende Maria, der tapfere Joseph! Nur leider hat die Lautsprecheranlage sie alle auch wieder ganz schön dumm aussehen lassen. Der Pfarrer hat die Maria regelrecht vors Mikro zerren müssen. Und Josephs Stimme hat weh getan in den Ohren. Der Chor zu leise, die Flöte zu schrill. Um ehrlich zu sein: Es war nicht auszuhalten. Aber natürlich können wir unter keinen Umständen auf die Anlage verzichten. Sie ist vom Allerfeinsten. Die Versager, das sind wir.
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Jaron Lanier, Informatiker: „Ständig setzen sich Menschen selbst herab, um den Eindruck zu erwecken, Maschinen seien intelligent.“
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Das Ohr träumt von der Musik, das Auge von der Kunst, die Haut von der Liebe/ „Skintimacy“ ist eine vom Design Research Lab an der Berliner Universität der Künste entwickelte Maschine zur Klangerzeugung und Gefühlskontrolle. Dabei werden Hautkontakte von Sensoren registriert und in akustische Signale umgewandelt. Die Entwickler beschreiben das System als „haut-basiertes Interface für musikalische Performances“, ein Promotion-Video demonstriert jedoch, in welche Richtung die Phantasie der Designer tatsächlich geht: In einer Szene wird ein Zeitungsleser, der die neben ihm sitzende Frau versehentlich anstuppst, von einem Warnton abgeschreckt; in einer anderen Einstellung streichelt eine Mutter, beseelt von glockigem Klingeling, ihr Baby. Die Transformation von Gefühlen in Klänge, so lautet die Botschaft, könnte helfen, die zwischenmenschliche Kommunikation zu vereinfachen. Wer sich bedrängt fühlt, käme nicht mehr in die Verlegenheit, sich der Situation stellen zu müssen. Sich räuspern, zurückrempeln, zetern, versteinern – dahinschmelzen? Eine automatische, möglichst zeichenhafte Reaktion würde das Individuum entlasten, weil die Risiken selbstbestimmten Handelns entfielen und eine verlässliche Apparatur das Benehmen regulierte. Als Menschlichkeitsprothese präsentiert sich „Skintimacy“ auch im Falle des Glockenläutens beim Austausch von Zärtlichkeiten. Hier zielt die Technik zunächst einmal auf Verhaltensoptimierung ab. Die Sache wirkt ähnlich wie der Quittungston beim Drücken einer Taste: Das akustische Feedback hilft, die richtigen Stellen des Objekts ausfindig zu machen und mit der richtigen Intensität zu drücken – Gefühl im buchstäblichen wie empathischen Sinne erübrigt sich./ Zugegeben, „Skintimacy“ ist nebbich, die Gefühle bleiben einstweilen frei. „Braintimacy“ dagegen ist ein weit fortgeschrittnes Projekt.
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„Game is the new normal“, sagt Al Gore. Laut Gartner Research Report werden bereits 2015 mehr als die Hälfte aller von Organisationen initiierten Innovationsprozesse „spielifiziert“ sein. Kann die Humantechnologie Gamification, also die „Steigerung von Nutzungsmotivation durch Einsatz von Spielkonzepten“, auch der Humanisierung dienen? Die Verfechter könnten sogar mit Schiller argumentieren und sagen, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt. Allerdings gewinnt bei dem einen immer der Spieler, bei den anderen immer die Bank.
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Jaron Lanier, Informatiker: „Am Ende des Regenbogens der offenen Kultur wartet der ewige Frühling der Werbung.“
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„Dank der neuen technologischen Infrastruktur werden Probleme im Voraus gelöst, und zwar mittels Anreizen, die neue Verhaltensweisen hervorrufen“, sagt der Publizist Evgeny Morozov. Das Ergebnis der „neuen Spielart der Demokratie“ seien „Bürger, die ziemlich glücklich sind, die sich gut unterhalten fühlen und gut versorgt sind, ja, sogar effizient versorgt. Und das ist das Gruselige daran! Ein völlig neues Problem, von Big Data und Social Media ausgelöst, ist es aber nicht. Entstanden ist es aus inneren Widersprüchen der Demokratie, der Moderne, des Kapitalismus, der Bürokratie.“
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Es ist nicht der König, nicht der sechzehnte Ludwig, den Charles Henri Sanson am 21. Januar 1793 enthauptet. Der Mann heißt Louis Capet und ist ein Bürger (Citoyen), wie jeder andere auch. Der dritte Stand, der nichts zu sagen hatte, aber etwas zu sein beanspruchte, hat alles erreicht: Das Bürgertum ist allgemein geworden.
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Die Macht hat ihr Gesicht verloren. Sie zertritt die Maske von Güte, Anmut und Frömmigkeit, entblößt ihre Brüste und eilt nach vorn. Die Freiheit führt das Volk. Widerstand wird gegenstandslos.
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Unter der Herrschaft des Begriffs leert sich das Land. Wir wandern nach Karten und essen nach Zahlen. Äpfel schmecken nach Gesundheit.
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Ein Großteil der symphonischen Musik nach Mozart spielt am Vorabend des Weltkriegs. Sie spielt in einem überhitzten Raum. Der Mann, bereits eingekleidet, tritt zu der Frau am Fenster. Hinter schweren Vorhängen harren sie aus. Das Ohr in der Nacht, das Herz an der Front.
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„Die Bourgeoisie hat einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dem Idiotismus des Landlebens entrissen“, rufen die Bürgersöhne Marx und Engels mit stolz geschwellter Brust. Ihren Schüler Maxim Gorki ärgert der verbliebene Bodensatz. Er träumt davon, die „zählebige, gemeine Wirklichkeit“ des bäuerlichen Lebens mit der Wurzel auszureißen und „aus dem Gedächtnis der menschlichen Seele“ zu tilgen. Nach dem Beschluss der Zwangskollektivierung schreitet die Sowjetmacht zur Tat. Molotow empfiehlt, „widerständige Bauern wie Katzen in Flüssen zu ersäufen und ihre Familien zu zersetzen“. Jeschow brüllt: „Der Kulak ist nichts weiter als ein Schwein. Deportiert ihn!“ Die Sowjet-Propaganda kennt „keine Menschen mehr, sondern nur noch ,Insekten‘, ,Unkraut‘, ,Abfall‘ und ,Bakterien‘, die aus dem gesunden Gesellschaftskörper herausgebrannt werden müssen“ (Jörg Baberowski). Millionen von Landbewohnern fallen den Maßnahmen zum Opfer. Ein Jahrhundertverbrechen. Oder einfach: Modernisierung.
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Der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt kritisiert den Anspruch der Geschichtsphilosophie, „zu einem allgemeinen Programm der Weltentwicklung durchzudringen“. Insbesondere Hegel bekommt sein Fett weg: „Hegel sagt, der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringe, sei der einfache Gedanke der Vernunft, der Gedanke, dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei. Das Ergebnis der Weltgeschichte müsse demnach sein, dass sie der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes gewesen sei – was doch erst zu beweisen und nicht ,mitzubringen‘ war.“ Der Beweisgang, zu dem sich das 20. Jahrhundert entschloss, ist bekanntlich blutig fehlgeschlagen; Hegels Weltgeschichte landete als Modell eines unbewohnbaren Gedankengebäudes im Philosophiemuseum. Der Freude am Programmieren der Weltentwicklung hat das allerdings keinen Abbruch getan. Schade nur, dass die damit befassten Experten zwar sehr viel Mathematik ,mitbringen‘, aber ganz ohne den einfachen Gedanken der Vernunft auskommen.
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Vernunft ist der Sinn fürs Ganze. Daher trifft man vernünftige Leute eher auf dem Land als in der Stadt, eher unter freiem Himmel als vor einem Bildschirm.
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Moderne Maximen: Wo Es war, soll Ich werden. Wo Vertrauen war, soll Sorge sein. Wo Armut war, soll Elend herrschen.
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Albert Camus: „Wer einmal die Industrievororte gesehen hat, fühlt sich, wie ich glaube, auf immer besudelt und verantwortlich für ihr Vorhandensein.“
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Nichts gegen die Bauten Le Corbusiers. Fragwürdig ist sein Naturverständnis. Bekanntlich liebt der Meister die frische Luft und das klare Licht, den Himmel und das Meer. Immer wieder zieht es ihn an die Côte d’Azur, wo er bevorzugt in einer selbst errichteten, primitiven Hütte logiert. Von großem Respekt vor der Natur zeugt nicht zuletzt seine Vorliebe für aufgeständerte Häuser. Gebäude sollen sich klar abheben von dem Grund, auf dem sie stehen; Architektur und Natur sollen Abstand wahren. Das Idealbild der Stadt zeigt strahlend weiße Pfahlbauten, unter denen ein Ozean aus grünen oder goldenen Halmen wogt. Nur kein Kartoffelacker, bitte. Kein Vieh in Sichtweite. Kein Schuppen, kein Zaun, kein matschiges Stoppelfeld. Beachtlich findet der Architekt weniger jenes Durcheinander aus Nutzflächen und Freiräumen, das wir Kulturlandschaft nennen, als etwas, das diesseits der Antarktis allenfalls am Sternenhimmel und in der Einbildung existiert: die unbefleckte, nicht von Menschen vereinnahmte Wildnis, die erhabene Natur. Als Symbol verweist sie auf das wüste Es, von dem sich das kultivierte Ich emanzipiert hat. Als Gestalt ist sie ein Rahmen, und zwar der einzige, der die steinernen Emanationen des reinen Geistes zu fassen vermag. Die durchwachsene Natur dagegen? Das Land der Bauern, Hirten und Wanderer? Die lebendige Kulisse des Dramas von Natur und Geist? Kommt nicht vor im bourgeoisen Traum der Architekturmoderne. Sie imaginiert Savannen – und schafft Abstandsgrün.
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Verfluchtes Ressentiment! Gehemmte Rache, geheimer Groll, Selbstvergiftung. Ich bekenne, ich bin nicht frei davon. Manchmal wüte ich im Stillen: Legt sie um! Macht sie kalt! Und bin nach außen der sanfte, friedfertige Leftie. Dass ich die Ausfälle als peinlich empfinde, dass ich sie verurteile und zurückweise, macht die Sache kaum besser. Wer weiß, vielleicht ist es nur ein Trick: Man erteilt sich selbst die Absolution, um beruhigt weiterzumachen. Wo das enden wird? Ich weiß es nicht. Trotz alledem sage ich mit größter Gewissheit: Ich bin von Natur aus gut.
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Nicht nur das soziale Geschlecht (gender) sei ein kulturelles, letzlich sprachlich-diskursives Konstukt, auch das biologische Geschlecht (sex) werde durch Sprechakte geprägt. Für die Gender-Forscher, die diese Auffassung vertreten, ist die Sprache vor allem ein Macht–instrument. Niemand kann dieser Macht ausweichen. Wer den Mund aufmacht und redet, reduziert die Wirklichkeit auf eingeschliffene Vorurteile. Sprache bildet Herrschaftsverhältnisse ab, rechtfertigt, zementiert und tradiert sie. Dennoch ist das Subjekt der Formierung durch Sprache nicht völlig hilflos ausgeliefert. Durch Dekonstruktion der Rede und ihrer Regeln kann es sich selbst „ermächtigen“ (Michel Foucault). Aber warum begehrt es überhaupt auf? Was steckt hinter dem ominösen „Begehren“, das Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten fortwährend beschwören? Was ist der Beweggrund für die Erhebung und Selbstbehauptung des Individuums? Leidensdruck? Élan vital? Freiheitsdrang? Intelligenz? Irgendein Systemzwang? Der Wille zur Macht? Libido? An Erklärungsprinzipien herrscht kein Mangel. Aber alle verweisen sie auf eine nicht kulturell geprägte Instanz, die man sich demnach nur als etwas naturhaft Gegebenes denken kann. Rousseau lässt grüßen: Auch ihm erschien der vergesellschaftete Mensch als ein deformiertes Wesen, auch für ihn hatte die Natur das erste und letzte Wort. Die Gender-Theorie freilich will den Naturalismus, auf den sie sich letztlich gründet, nicht wahrhaben. Akzeptierte sie ihn, müsste sie biologische Gegebenheiten anerkennen. Sie müsste den sexuellen Dualismus als Grundtatsache des Lebens würdigen. Dann allerdings müsste sie sich auch zu großen Teilen selbst dekonstruieren.
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Die Natur beschert uns hufeisenförmige Gurken und hutzlige Äpfel, sehr kleine und sehr große Kartoffeln. Sie schenkt uns aber auch mittelgroße Kartoffeln, schöne Äpfel und gurkenförmige Gurken. Die berechtigte Kritik am Normierungswahn des ökonomisch-politischen Komplexes sollte uns nicht zu dem Irrglauben verleiten, Normalität sei eine Erfindung böswilliger Bürokraten. Selbst der Mathematiker Carl Friedrich Gauß kann nichts dafür, dass die nach ihm benannte Normalverteilungskurve wie eine Glocke aussieht. In der Mitte herrscht Gedrängel. Damit müssen und dürfen wir rechnen – bei Gurken wie beim eigenen Nachwuchs. In aller Regel werden wir keine Genies oder Idioten, sondern nette, durchschnittlich begabte Kinder in die Welt setzen. Das ist weder ungerecht noch zu ändern. Und wer es akzeptiert, ist kein Spießer und kein Reaktionär. Nur der ist ein Spießer, der die eigene Schönheit oder Hutzligkeit zum Maß aller Dinge erhebt und Abweichungen nicht gelten lässt.
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Offen gesagt, hat sich vieles verbessert. Zum Beispiel kannst du heute mit fast allen Leuten vernünftig reden. Der ideologisch verbohrte Spießer ist eine aussterbende Spezies. In aller Regel haben wir es mit weltoffenen, gebildeten, überaus kritischen Bürgern und Konsumenten zu tun. In vielen Feldern, ja, in den allermeisten, herrscht Einigkeit. Wir sind für Bildung. Wir stehen zum kritischen Bürger, zum weltoffenen Weltbürger. Jeder muss offen sein, Mann – komme, was wolle. Und wer sich weigert, kriegt eben eins in die Fresse.
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Selten so ein gutes Aldi-Gefühl gehabt – bis ich, gleich bei der Schokolade, dem ersten Wutkäufer begegne. Wie er in die Kartons langt. Wie er die Ware in den Wagen pfeffert. Wie er seine Wut und seinen Hass wegschnauft. Kaufen als Kapitulation, denke ich und gehe schnell weiter. Aber ich sehe sie jetzt auch an der Kühltheke, beim Obst und an der Kasse. Überall Wutkäufer und Hasskäufer. Wir gehen mit Appetit in diese Läden hinein und verlassen sie als arme, gedemütigte Schlucker.
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Ich nutze das Feuerzeug. Ich nutze die Zeitung, das Holz und die Kohle. Das Feuer, das ich mache, hat einen Nutzen. Natürlich auch das Zimmer, in dem es brennt. Und das Haus mit allem, was drin ist. Mein bequemer Sessel zum Beispiel. Sein Nutzen ist unbestreitbar. Auch der Nutzen der Möbelfabrik, die ihn gemacht hat, lässt sich kaum leugnen. Einen Nutzen haben demnach auch das Sägewerk, die Weberei, die Schaumstofffabrik und all die anderen Zulieferer. Eigentlich hat die gesamte Industrie einen Nutzen, dazu die Infrastruktur, der Handel, die Werbewirtschaft und so weiter. Selbst die Börse, ich muss es zugeben, hat einen Nutzen. Überhaupt das Geld. Die Kohle. Das Papier. Wahrscheinlich hat alles einen Nutzen. Ich frage mich nur, ob der Nutzen einen Nutzen hat. Und wenn ja, wem er nützt.
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Mit dem Lieben Gott trugen sie die Natur zu Grabe. Mit dem Vater kam ihnen die Mutter abhanden. Die Erde zwängten sie in ein Treibhaus. Das Land erstarrte zur Landschaft, in der sie sich selbst bespiegeln. Kein Gegenüber. Bis der Frost das Glas sprengt.
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Mit Goethe, Niels Bohr und Werner Heisenberg in Heisenbergs Berghütte am Walchensee: „Das Abwaschwasser stinkt“, sagt Goethe. „Man muss es hinnehmen“, sagt Heisenberg. „Die Men–schen haben es zu allen Zeiten hingenommen. Wer es nicht hinnimmt, macht sich unmöglich“ „Es stinkt“, sagt Goethe. „Mag sein“, sagt Bohr lächelnd. „Aber schau mal, dein Teller.“ Goethe macht Augen. „Blitzblank“, sagt Bohr. „Und warum?“, fragt Heisenberg. Bohr zieht den Lappen aus der Brühe und hält ihn Goethe lächelnd vor die Nase. „Du hast das Wort“, sagen die Physiker. „Aber wir haben das Werkzeug.“ – „Der Lappen stinkt ganz entsetzlich“, klagt Goethe. „Ist noch keiner erstunken“, zischt Heisenberg. „Mehr Luft“, sagt Goethe. – „Nicht die Tür“, sage ich. Aber er hat sie schon aufgerissen. – „Fürchte dich nicht“, sagt der Engel.
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Im übrigen ist Kitsch bei weitem nicht so schlimm und eklig, wie die Galeristin aus der Oberstadt immer behauptete. Wäre er eine Wissenschaft, müsste man ihn zu den soft sciences zählen, die sich bekanntlich an den harten Problemen abarbeiten. Was dabei herauskommt, ist selten brillant und oft lächerlich. Aber es geht jeden beschissenen einzelnen von uns etwas an. Die hard sciences dagegen? Was haben sie heute anderes zu bieten als den Maschinentraum von ungeheurer Effizienz beim Aufpieksen von Marsh-Mallow-Wölkchen?