Alterskitsch

Kulturpessimismus aus der hinterwäldlerischen Perspektive! Bis zur Lachhaftigkeit schwarzseherisch und schönfärberisch! Alterskitsch! Jawohl Alterskitsch, bei dem Gegenwart und Zukunft zuverlässig abkacken und alles Gewesene leuchtet! Es ist nicht zum Aushalten, sagt der Kritiker, als was für ein rückwärts gewandtes Arschloch du dich in diesen Texten präsentierst. Das hätte ich nie von dir gedacht!

Die Vorwürfe überraschen mich nicht. Ich frage mich praktisch jeden Tag, ob ich eigentlich noch bei Trost bin. Ich ringe um Rechtfertigung. Zum Beispiel bin ich mir sehr wohl darüber im Klaren, wie gut es mir und den Meinen eigentlich geht. Ich weiß das zu schätzen, wahrscheinlich besser als mein Kritiker, der Beamtensohn, der Bourgeois. Wie ich nicht müde werde zu betonen, wurde ich im Mittelalter geboren. Ich entstamme einer Dynastie von Kleinköttern und Halbmeiern, von Knechten und Mägden. Wir lebten im Schatten der Bauern und Barone, bis der im 19. Jahrhundert einsetzende industrielle, demokratische und soziale Aufschwung schließlich auch uns erfasste, so dass wir an der Seite unserer Brüder ein wenig zur Sonne, zur Freiheit aufschließen konnten. Die Butter auf dem Brot bedeutet mir etwas, auch die gute zahnmedizinische Versorgung, die Rechtssicherheit, die freie Presse, der Friede. Das ist gerade das Peinliche: Wer heute in einer Stadt wie München lebt und einen Job hat, kann sich nicht über einen Mangel an Freiheitsrechten, an kulturellen Spielräumen, an sozialen Versorgungsleistungen, an Angeboten aller Art beschweren – und doch vermisse ich das meiste.

Ach du Scheiße, sagt der Kritiker. Jammern auf hohem Niveau.

Kann schon sein. Doch mit dem widerwärtigen Muckertum jener Wohlstandsbürger, die ihren Überdruss am Überfluss ausnahmslos an anderen Leuten oder irgendeinem System abreagieren, möchte ich nichts zu tun haben. Bahn-Bashing ist mir verhasst. Leute, die sich bei jeder Gelegenheit über die mir unbekannte „deutsche Servicewüste“, die angeblich notorische Unzuverlässigkeit der Post, den ausbleibenden Schnee, die ausbleibende Sonne und ganz besonderers heftig über die ausbleibende Ehrerbietigkeit der eigenen Person gegenüber beschweren, machen mich wahnsinnig. Was ich vermisse, ist zunächst einmal allein meine Sache. Es ist eine Folge des natürlichen Laufs der Dinge. „The pressure of life takes weight of the body“. Die schöne Unbeschwertheit ist dahin. Die robuste Gesundheit. Ein Gutteil der Schaffenskraft. Ich kann keine Songs mehr schreiben. Die gangbaren Wege werden kürzer. Die Libido verduftet sich. Die Sehkraft lässt nach. Aber keine Bange, das alles verschmerze ich. Reifen setzt Verblühen voraus, und die Weitsichtigkeit des beginnenden Alters hat ja auch seine Vorzüge. Kleine Schriften lese ich zwar nicht mehr so gut und auch nicht mehr so gern, dafür schärft sich der Sinn für gewisse Gedichte und Songs, deren Schönheit ich früher eher verschwommen wahrgenommen habe. Man sieht weiter in der Zeit, oder? Man sieht die gelben Birnen der Vorzeit und die klirrenden Fahnen des Kommenden. Das ist einfach so. Jeder, der über die Hälfte des Lebens hinaus ist, hat bereits im Frühling die frostige Winterlandschaft vor dem inneren Auge und entwickelt deshalb einen ausgeprägten Sinn für die Kostbarkeiten der Existenz.

Und solange wir vom Blick aufs eigene Leben reden, von der Erinnerung an den eigenen April und von der Angst vor dem eigenen November, dürfte kaum jemand dieser Einschätzung widersprechen. Peinlich wird es erst, wenn jemand seine subjektive Sicht auf die Dinge für den objektiven Gang der Geschichte ausgibt (und dabei schnell mal die eigene Demenz zur allgemeinen Dekadenz umdeutet). Wenn ich sage: Die zivilisatorische Entwicklung der letzten vierzig Jahre ist in fast jeder Hinsicht eine katastrophale Entwicklung gewesen, gebe ich mich der Lächerlichkeit preis. Millionen von Daten sprechen gegen mich. Allein das zwischenzeitliche Wachstum der Weltbevölkerung um Milliarden widerlegt mich. Zwar hungern viel zu viele, aber die meisten werden eben doch durchgebracht, und diese durch einen allgemeinen zivilisatorischen Fortschritt ermöglichte Versorgungsleistung ist nun wahrlich nicht von Pappe.

Andererseits lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Die Welt der Umschlagszahlen, der wirtschaftlichen Kennziffern und der Speicherkapazitäten ist nicht die ganze Welt. Die Perspektive auf die klirrenden Fahnen, auf das abstrakte, geleitete Leben in der von Profis gemachten Welt der Funktionen und Images, ist nicht die einzig reale Perspektive. Wirklichkeit erfasst auch der Blick auf die gelben Birnen, und wahrscheinlich ist die Weltsicht, die den unerschöpflichen Reichtum des konkret in der Natur Gegebenen wertschätzt, sogar die bei weitem realistischere Perspektive.

Dieser Realismus spielt eine Rolle in der Gegenwart. Er ist da – in praktisch jedem guten Lied, in den besten Büchern, in Reden, Losungen und Agenden, vor allem aber in der tausendfältigen Praxis von Kleinbauern, Genossenschaftlern, Schrebergärtnern, Recyclingdesignern, Handwerkern, Microunternehmern, Open-Source-Tüftlern, Zufußgehern, Müllvermeidern, Selbermachern und anderen Meistern und Novizen des Buen Vivir. Überall auf der Welt stemmen sich Menschen gegen den Wirklichkeitsverlust, der mit der alle naturalen Zusammenhänge atomisierenden Arbeitsteilung, Technisierung und Verwissenschaftlichung zwangsläufig einhergeht. Überall stößt die im Namen eines absurden Utilitarismus vorangetriebene Schändung der Natur auf erbitterten Widerstand.

Der Realismus ist eine Kraft, doch die Wege, die er weist, sind notwendig schmal, steinig und steil. Außerdem führen nicht alle ins Freie. Deshalb widerstehen am Ende nur die wenigsten den Verlockungen der Abstraktion und biegen ab auf die Autobahn. Es ist die Macht der eingefahrenen Strukturen, der bewährten Konzepte und erprobten Mechanismen, die den weltweiten Protest der Realisten immer wieder ins Leere laufen lässt oder umbiegt. Die Macht bietet Brot und Spiele. Sie bietet Komfort, Freizügigkeit, Sicherheit und vieles mehr, doch das Angebot, das niemand abschlagen kann, ihr stärkstes Argument, ist moralischer Natur. Macht rettet Leben.

Wir retten Leben, sagt der Arzt und füttert seine todgeweihten Patienten mit Schläuchen. Wir schenken Leben, sagt der Kindermacher vom Babyzentrum und schwängert Leihmütter aus der Ferne. Wir optimieren Leben, sagt der Programmierer der neuesten Quantify-yourself-App und präsentiert stolz seine Muckis.

Was lässt sich sagen über das Leben, für das sich unsere stets wohlgesinnten Experten einsetzen? Es stehe über den Dingen, heißt es. Es sei das höchste Gut. Man wolle es unter allen Umständen schützen und bewahren. Da man aber auch bestrebt sei, es zu verbessern, müsse man es verstehen. Und um es verstehen zu können, müsse man es bestimmen – was womöglich die Quelle aller modernen Übel ist. Denn das Leben, das subjektiv nach wie vor als freies und offenes Spiel erfahren (oder zumindest imaginiert) wird, schwindet in der Objektivierung zur messbaren Größe, zu einer Sache mit exakt definierten Grenzen und bezifferbarem Wert. Das Wunder wird zur Herzlungenmaschine. Das Leben steht nicht mehr über den Dingen. Es steckt aber auch nicht in ihnen. Das Herz ist nur ein Muskel in einem Muskelystem, die Frühlingswiese nur ein Bild unter anderen, der Virenstamm lediglich eine Probe, der Ameisenstaat nur ein Beispiel. Die bevölkerten Meere sind nichts weiter als Ressourcenlager, die Sonne ist bloß eine Energiequelle, der Mutterleib ist ein Geschäftsmodell. Die Dinge zählen noch – und wie! –, aber sie sind tot. Das Leben gerinnt zum Funktionszusammenhang zwischen den Dingen und wird damit letztlich zum abstrakten Konzept, zur bestimmten Meinung, zum Bewusstseinsphänomen. Daher die Anbetung des Intellekts in der Moderne und ihre Neigung, nur dem bewussten „Ich“ die volle Würde des Lebens zuzugestehen.

Dass die mit der intellektuellen Hybris einhergehende Herabwürdigung des Lebens Vorteile bietet, steht außer Frage. Die als positiv bewerteten Effekte reichen von der unglaublichen Produktionssteigerung in der industrialisierten Landwirtschaft bis zu den unheimlichen Erfolgen in gewissen Teilgebieten der Medizin. Überhaupt wäre keine der lebenserleichternden Errungenschaften der Technik denkbar ohne die wissenschaftlich-objektivierende Sicht auf die Dinge. Selbstverständlich profitieren auch die „weichen“ Wissensdisziplinen von der Psychologie bis zum Marketing von dem szientistischen Trick des Nichtwahrhabenwollens, der darin besteht, den Gegenstand der Forschung exakt zu bestimmen und dadurch notwendig von denjenigen Elementen und Aspekten zu abstrahieren, die sich der Bestimmung nicht fügen.

Was Abstraktion anrichten kann, lässt sich in einer modernen Geflügelfarm besichtigen, wo Lebewesen als Biomasse angesehen und dementsprechend – wie Dreck nämlich – behandelt werden. Abstraktion erlaubt es Ökonomen, ihre Mitmenschen als Humankapital zu betrachten und zu managen. Sie bringt konstruktivistische Philosophen dazu, die Wirklichkeit als fixe Idee zu begreifen. Sie verleitet Feministinnen dazu, die halbe Menschheit zu diskriminieren. Sie macht Patrioten zu Nationalisten, Menschenfreunde zu Sozialisten und geschäftstüchtige Bastlernaturen zu Internet-Ideologen. Sie ist die Quelle aller Irrtümer und Einseitigkeiten, unter denen wir leiden.

Natürlich kann man auch einen Blick in unsere Kliniken werfen. Die Intensivstation, die Frühchen-Abteilung, die Profitcenter der Reproduktionsmediziner, die Wartesalons der plastischen Chirurgen, die Organkühlschränke der Transplanteure, die Ersatzteillager der Orthopäden. Man kann hier überall Vorteile sehen: bewahrtes, verbessertes, gerettetes, geschenktes Menschenleben, das sich nach wie vor als freies und offenes Spiel entfalten kann.

Möglich ist es. Natürlich. Immer.

Aber wohl nur in Einzelfällen (denen in unseren antitheoretischen Zeiten freilich höchste Beachtung geschenkt wird, da sie im medialen Kontext die Gründe für allgemeingültige Sätze – herrschende Meinungen! – liefern, obwohl sich ihre Beweiskraft eigentlich in der Widerlegung von Thesen erschöpft). Aufs Ganze gesehen scheint mir der kritische Punkt, bis zu dem die wissenschaftlich-objektivierende Engführung des Denkens zum humanen Fortschritt beitragen konnte, längst überschritten zu sein. Die Methode schadet mehr als sie nützt. Genauer gesagt: Der Schaden, den sie dem Leben zufügt, ist größer als der Nutzen, den sie den Lebenden bringt.

Bis vor wenigen Jahrzehnten lebte die Menschheit in einem Reich mit klar umrissenen Grenzen. Niemand hatte sie gezogen oder bestimmt, sie waren einfach immer dagewesen. Es gab deren zwei. Die Befruchtung des weiblichen Eis durch den männlichen Samen markierte die Grenze zwischen Tod und Leben, während der Stillstand des Herzens die Grenze zwischen Leben und Tod anzeigte. Diese Grenzen, von denen man sagte, sie seien natürlich, weil sie sich in ihrer ontologischen Evidenz und sinnlichen Prägnanz von selbst verstanden, sind verrückt worden. Man hat die Linien enger gezogen. Ein Mensch gilt heute schon als tot, noch bevor sein Herz aufgehört hat zu schlagen. Und Leben im vollen Sinne spricht man ihm erst nach der Geburt zu. Die aufgegebenen Territorien werden, bevor der Tod sich ihrer bemächtigt, ausschließlich zum Nutzen der Lebenden ausgebeutet, heißt es. Man beraubt die Sterbenden ihrer Organe. Man treibt Föten ab. Man macht etwas aus der Beute: Transplantate, Medikamente, Erkenntnisse, Konzepte, Gerüchte, Produkte, Kampagnen. Dabei geht es am Ende immer um Zeitgewinn. Es geht darum, die dem Leben gestohlene Zeit gewinnbringend anzulegen. Es gibt kein lukrativeres Geschäft, weil die Lebenden jeden Preis für ein Stückchen Zeit bezahlen.

Naiv, blöd oder boshaft, wer in Kenntnis dieser Faktenlage annähme oder behauptete, die Geschichte würde hier enden. Natürlich geht sie weiter. Der Embryonenschutz-Kompromiss steht unter Beschuss. Der Hirntod ist ein vorläufiges Konzept. Denn die Lebenden beanspruchen mehr Zeit. Immer mehr. Und natürlich werden sich immer geschäftstüchtige Experten finden, die ihnen das Gewünschte bieten – und utilitaristische Ethiker, die ihnen ein gutes Gewissen machen. Die Lebenden: eine Horde empfindungsloser Deppen am Ende, die einander als Biomasse ansehen und dementsprechend behandeln.

P.S. Und was, fragt der Kritiker, sagst du dem sterbenskranken Kollegen, der auf eine Spenderniere wartet?  Was sagst du dem chronisch kranken Nachbarn, dessen Leiden durch ein neu entwickeltes Medikament beendet werden könnte? Was sagst du dem kinderlosen Paar, das sein Glück in der künstlichen Befruchtung sucht? Was sagst du dem Armen, der von der billig produzierten Biomasse lebt, die ihm die moderne, wissenschaftlich fundierte und technologisch hochgerüstete Landwirtschaft bietet?  Was sagst du den Leuten, die alle legalen Angebote nutzen, um ihr Leben so lange wie möglich zu genießen? Ich weiß nicht. Mir fällt nur ein sehr abstrakter Gedanke ein. Kants Kategorischer Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Bedenke, dass deine privaten Entscheidungen allgemeine Konsequenzen haben. Organtransplantation impliziert Organhandel mit allen bekannten und noch zu erwartenden Scheußlichkeiten, Embryonenforschung weckt das Gespenst der Eugenik, künstliche Befruchtung ist der erste Schritt zum marktgerechten Design des Lebens, industrielle Lebensmittelproduktion ist Landraub und stürzt arme, aber freie Selbstversorger ins Elend der Slums, Hedonismus unter modernen marktwirtschaftlichen Bedingungen bedeutet grenzenloser Konsumismus und absolute Enteignung der Persönlichkeit. Das eigene Leben ist nicht das höchste Gut. Der Egoismus, der das Wirtschaftsleben totalitär beherrscht, darf nicht zum allgemeinen Gesetz werden.