Es gibt die Natur, die mich mit ihren kühlen Gründen und »sehnsüchtigen Bächen« beeindruckt, und es gibt die Natur in meiner Rede. Der letzteren ist nicht immer zu trauen. Denn was soll das eigentlich heißen: natürlich? Kein Wort geht einem leichter über die Lippen, keines ist schwerer zu fassen, eben weil es bezeichnet, was sich von selbst versteht.
Manchmal verwenden wir es tatsächlich in diesem Sinne. Wer etwa die Frage »Kommst du heute Abend?« nicht einfach mit »Ja« beantwortet, sondern völlig ironiefrei »Natürlich« sagt, verweist sozusagen auf die Evidenz kosmischer Naturvorgänge, um jeden Zweifel an der Wahrhaftigkeit seines Vorsatzes zu zerstreuen. In einem Satz wie »Natürlich müssen wir alle sterben« ist das Wort eigentlich schon überflüssig, dient aber immerhin noch der Bekräftigung einer Aussage, die auch für wahr genommen würde, wenn es fehlte. In einer Formulierung wie »Natürlich brauchst du acht Stunden Schlaf« dreht es sich schon nicht mehr um eine schlichte Wahrheit, sondern um eine Meinung, die durch das Adjektiv »natürlich« als die einzig wahre gekennzeichnet werden soll. Wer sagt: »Natürlich regnet es in Münster häufiger als in München«, missbraucht das Wort als Scheinargument für eine Behauptung, die Allgemeingültigkeit beansprucht, sich jedoch bestenfalls auf eine Reihe von Erfahrungen stützt. Und in der Aussage des Fußballfans »Natürlich werden wir gewinnen« steht »natürlich« nur noch für den Brustton der Überzeugung, mit dem eine Vermutung ausgesprochen wird.
Die Beispiele zeigen, dass wir uns auf schlüpfrigem Grund bewegen, sobald wir Natürlichkeit argumentativ ins Spiel bringen.
Man könnte nun denken, »Natur« sei das Universalargument der schlichten Gemüter. Aber das stimmt nicht. Häufig sind es die Großmeister des Diskurses, die Wortführer aus Politik, Presse, Marketing, Kunst und Wissenschaft, die sich des fragwürdigen Erklärungsprinzips bedienen. Der französische Philosoph Roland Barthes hat bereits 1957 in seiner berühmten Untersuchung Mythen des Alltags auf diesen Umstand hingewiesen. Unaufhörlich würden die Massenmedien der geschichtlichen Wirklichkeit einen Stempel von »Natürlichkeit« aufdrücken, stellt er fest. Und weiter: »Die bürgerliche Klasse hat ihre Macht auf dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt aufgebaut, auf einer unbegrenzten Umwandlung der Natur; die bürgerliche Ideologie stellt eine unveränderliche Natur wieder her.«(1)
Natur als Mythos
Das Mittel, das diese Rekonstruktion ermöglicht, ist Barthes zufolge der Mythos – verstanden nicht als überlieferte Erzählung, sondern als übergeschichtliche Botschaft, die dem Wirklichen alles Nicht-Identische entzieht, um es als eindeutige, suggestive, selbstverständliche, kurz: natürliche Wahrheit darzubieten.
In diesem Sinne nutzt die werbetreibende Wirtschaft den Mythos der »green technologies«; betreiben bürgerliche Medien Propaganda für »die Wissenschaft«; berauscht sich die bürgerliche Öffentlichkeit insgesamt an den Großerzählungen vom alternativlosen »Wirtschaftswachstum«, von der Wunder wirkenden »Künstlichen Intelligenz«, vom »Vorsprung durch Technik« oder von der »Vernünftigkeit der Weltgeschichte«.
Naturgemäß lassen sich mythische »Wahrheiten« für vielerlei Zwecke instrumentalisieren. Zum Beispiel können heterogene Bevölkerungen zu Schicksalsgemeinschaften zusammengeschweißt werden, wenn etwa die bloße Beschwörung »Europas« die argumentative Auseinandersetzung mit den realen Problemen und Perspektiven der Europäischen Union ersetzt. Auch Feindschaft lässt sich erzeugen, wie die negativen Mythen von »Putin«oder »Trump«zeigen. Doch wozu der Mythos auch immer eingespannt werden mag, seine Grundfunktion ist die Vernebelung des kritischen Blicks auf die tatsächliche Geschichte. Und in solch einen Nebel sind wir Barthes zufolge bereits dann geraten, wenn wir uns auf die Natur als solche berufen.
Ist die Natur nur ein Mythos? Für den dekonstruktivistischen Philosophen ist dies der Fall, und er erläutert seine These anhand des Topos der Menschheitsfamilie.
Humanistische Beschwörung
»In Paris«, so beginnt er seine Darlegung, »hat eine große Photoausstellung stattgefunden, deren Ziel es war, die Universalität der menschlichen Gesten im alltäglichen Leben in allen Ländern der Welt zu zeigen.«(2) Die Rede ist von der Ausstellung »The Family of Man«, die erstmals 1955 im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen war und seit 2003 zum Weltdokumentenerbe zählt: In über 500 Aufnahmen aus 68 Ländern zeigt sie ein umfassendes Porträt der Menschheit in Dutzenden von Themen, darunter Liebe, Glaube, Geburt, Arbeit, Familie, Kinder, Krieg und Frieden. »Nach den Erfahrungen des Krieges«, heißt es bei Wikipedia, »sollte die Schau helfen, eine bessere Welt zu schaffen und das Verständnis zwischen den Menschen zu fördern.« Und weiter: »Die Ausstellung sollte zeigen, dass alle Menschen gleich sind und dass jeder Mensch gleich welcher Klasse, gleich welcher Rasse, gleich welcher Kultur, gleich welcher Religion, gleich welchen Alters oder gleich welchen Geschlechts Würde besitzt und alle Menschen eine gemeinsame Natur haben.«
Gerade diese humanistische Beschwörung einer allen gemeinsamen Conditio Humana unterzieht Barthes einer scharfen Kritik. Die ganze Schau ziele darauf ab, »das determinierende Gewicht der Geschichte aufzuheben«(3), schreibt der seinerzeit stark von Bertolt Brecht beeinflusste Autor. Wir würden »an der Oberfläche einer Identität festgehalten und durch Sentimentalität gehindert, in den späteren Bereich der menschlichen Verhaltensweisen einzudringen, wo die historische Entfremdung jene ›Unterschiede‹ schafft, die wir schlicht und einfach ›Ungerechtigkeit‹ nennen.«
So weit, so gut brechtianisch.
Doch mit der Forderung, die Natur selbst als Mythos zu dechiffrieren, schießt Barthes womöglich weit übers Ziel hinaus.
Der klassische Humanismus, schreibt er, »stützt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darauf besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen«. Diese Begründung müsse als Betrug entlarvt werden. »Der fortschrittliche Humanismus muss stets daran denken, (…) die Natur, ihre ›Gesetzmäßigkeiten‹ und ihre ›Grenzen‹ unaufhörlich aufzureißen, um darin die Geschichte zu entdecken und endlich die Natur selbst als historisch zu setzen.«
Statt natürliche Ereignisse wie etwa den Tod oder die Geburt wieder und wieder zu »besingen«, komme es darauf an, die konkreten Bedingungen des Kinderkriegens und Sterbens in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls zu verändern.
Und hat der Kritiker nicht vollkommen recht? Sind nicht Wiegenlieder ein Firlefanz gegen die pränatale Diagnostik, die Abtreibungsberatung und die Geburtsmedizin? Sind es nicht sentimentale Trottel, die ihren todgeweihten Müttern die Hand halten, statt den Notarzt zu rufen? Fällt nicht alles Sein Lassen unter den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung? Verschleiert nicht tatsächlich alle Poesie die wahren Verhältnisse? Ist nicht tatsächlich Natur immer ein Konstrukt, das es unter allen Umständen zu dekonstruieren gilt?
Die Sonne scheint über der Geschichte
Egal, wie man zu diesen Fragen steht: In jedem Fall wird man zugeben müssen, dass »die Natur« ihre Gaben ungleich verteilt und dass diese moralische Blindheit als ungerecht empfunden werden kann. Genau daraus bezieht Barthes’ dekonstruktivistisches Ansinnen, »die Natur selbst als historisch zu setzen« seinen nahezu unwiderstehlichen Charme: Es scheint eine gerechte Forderung zu sein. Um dem Menschen gerecht zu werden, muss die Welt verändert werden, basta.
Das Problem dabei ist nur, dass wir tatsächlich schon in der besten aller Welten leben – in der nämlich, die uns hervorgebracht hat und in die wir so vollkommen eingewirkt sind, dass wir sie nur um den Preis der Selbstvernichtung verändern können. Es ist die Welt, in der das Licht sich Augen geschaffen hat, für die der Himmel blau, die Wiese grün und die Rose rot ist; die Welt, in der die Vögel sich in die Lüfte erheben, die Bäche talwärts fließen, die Winkelsumme von Dreiecken hundertachtzig Grad beträgt und die Sonne über der Geschichte scheint.
Die uns und unserer Mitwelt eigene Physis ist unhintergehbar, dem Reich der Ursachen können wir nicht entrinnen. Warum sollten wir so tun als ob? Wir können natürliche Ungleichheiten abmildern durch gegenseitige Hilfe und gute Gesetze, aber die Natur gleichsam abschaffen? Die es versuchen, indem sie die Natur durch eine Setzung erst verkünsteln, um das Artefakt dann genüsslich als Kitsch zu entlarven, machen sich selbst etwas vor.
Wer das bürgerliche Projekt der Verwandlung von Natur in Geschichte allen Ernstes zur Quintessenz eines „fortschrittlichen Humanismus“ erklärt und bis zur letzten Konsequenz voranzutreiben gedenkt, fühlt sich über das Reich der physischen Ursachen erhaben und wähnt sich allein im Reich der diskursiven Gründe zuhause – ein Irrglaube, dem die ideologische Fixierung auf einen logozentrischen Intellektualismus zugrunde liegt, der den Begriff stets über den Gegenstand stellt und die leibliche Kommunion mit dem Universum stets geringer achtet als die sprachliche Kommunikation innerhalb der menschlichen Gesellschaft.
Verrohung nach oben und nach unten
Der Philosoph Markus Gabriel hat diese Art von Intellektualisierung treffend als »Verrohung nach oben« (4) bezeichnet. Ihr ebenso unangenehmes Gegenstück, die Naturalisierung des Menschen durch Teile der Naturwissenschaften, nennt er »Verrohung nach unten«. In Wirklichkeit sind wir weder reine Vernunftwesen noch reine Bioautomaten. Zwischen einem Reich der Natur und einem Reich der Gründe lasse sich gar nicht klar trennen, gibt auch der Naturphilosoph Michael Hampe zu bedenken: »Dies ist nicht deshalb so, weil es keine Gründe und kein freies Handeln gibt, sondern weil das begründete Handeln auch kausale Folgen in den Bereichen der natürlichen Welt hat, in denen nicht begründet wird, und dann wieder ursächlich auf den Handelnden, der begründen kann, zurückwirkt.“ (5)
Sex zum Beispiel: Mann und Frau, die zwanglos miteinander schlafen, verursachen unter Umständen ein kausales Geschehen in den mütterlichen Bereichen der natürlichen Welt, das sie zwangsläufig zu Eltern macht. Mit dem Kinderkriegen hört die Freiheit nicht auf. Doch bindet es uns in ein Geschehen ein, in dem Freiheit und Notwendigkeit in eins fallen. Dieser Zusammenfall absoluter Gegensätze ist genau das, was wir als Wunder der Natur erfahren – und besingen.
Die bloße Historisierung der Natur indes läuft auf gnostischen Eskapismus hinaus. Dazu Michael Hampe: »Nur in der Phantasie eines Jenseits der Natur, in dem die Seele endlich nach Hause kommt, als freies und vernünftiges Wesen da einkehrt, wo sie eigentlich hingehört, kann die Abgetrenntheit des Reichs der Gründe vom Reich der Ursachen eine Plausibilität finden. (…) Doch Phantasien können nichts begründen, sondern nur Wünsche erfüllen; in diesem Falle Wünsche nach Reinheit.« (6)
Reinheitsfiktionen
Der Wunsch nach Reinheit treibt nicht nur logozentrische Intellektualisten, sondern auch wissenschaftsfromme Naturalisten um. Während jene die Natur historisieren wollen, würden diese die Geschichte am liebsten in Natur verwandeln. Diese knechtische Phantasie sucht das Heil in einer vollkommenen (naturgesetzlichen) Ordnung, die uns von den Bürden der Freiheit und Verantwortung entlasten würde und darum vielen als absolut wünschenswert erscheint. Transhumanisten beispielsweise. Sie schwärmen von einer »Intelligenz«, die ihnen die Mühe abnimmt, selbst zu denken und verantwortlich zu handeln. Was sie antreibt, ist der knechtische Wunsch nach einem virtuellen »Leben«, das mit jeder Menge Sport-Spiel-Spannung über den Freiheitsverlust hinwegtäuschen würde, den die Individuen nach dem erträumten Upload auf eine Festplatte erlitten.
Wie dem auch sei. Jedenfalls spielen sich die zivilisatorischen Kämpfe unserer Zeit vor dem Hintergrund extremistischer Reinheitsutopien ab, deren Protagonisten den Menschen entweder zum Gespenst oder zur Schnecke machen wollen.
Was jedoch die Umsetzung ihrer grundverschiedenen Ziele anbelangt, setzen die Gegenspieler fatalerweise auf ein und dasselbe Rezept: die möglichst vollständige Technifizierung des menschlichen Daseins. Vernunftfromme Humanisten erhoffen sich von der Technik die Überwindung der Leiblichkeit, damit die Welt sich endlich in die Sprachspielhölle verwandelt, die für sie den Himmel darstellt. Wissenschaftsfromme Naturalisten wiederum nutzen die Technik seit eh und je dazu, die Welt einschließlich sich selbst zu jener Maschine zu machen, für die sie sie immer gehalten haben. Wir sind in den Fängen reinheitsbesessener Rohlinge, die sich als die Klügsten der Klugen ausgeben. Es ist zum Verzweifeln.
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Anmerkungen
* „Um einer angeborenen Gleichgültigkeit die Waage zu halten, wurde ich halbwegs zwischen das Elend und die Sonne gestellt. Das Elend hinderte mich, zu glauben, dass alles unter der Sonne und in der Geschichte gut sei; die Sonne lehrte mich, dass die Geschichte nicht alles ist. Das Leben ändern, ja, nicht aber die Welt, die ich zu meiner Gottheit machte. So kam es wohl, dass ich die unbequeme Laufbahn einschlug, die die meine ist, und voll Unschuld das hohe Seil betrat, auf dem ich mühsam vorwärtsschreite, ungewiss, ob ich das Ziel erreichen werde. Mit anderen Worten: Ich wurde Künstler, wenn es denn wahr ist, dass es keine Kunst gibt ohne ein Auflehnen und ein Bejahen.“ Albert Camus
1) Roland Barthes: Mythen des Alltags, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982, S.129.
2) vgl. Barthes, S. 16
3) vgl. Barthes, S. 17, die folgenden Zitate S. 18.
4) Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn, Ullstein, Berlin 2015, S. 309 ff.
5) Michael Hampe: Tunguska oder Das Ende der Natur, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014, S. 229
6) vgl. Hampe, S. 230