Im Namen eines beinharten Feminismus betreiben Pädagogen und Politiker die „Entnaturalisierung“ von Geschlecht und Familie. Leider verkennen die Befreiungssexologen die Natur der Kultur. Des Heiligen beraubt kippt sie ins Bodenlose. Was bleibt, ist eine zum Sprachspielhimmel verklärte Machtspielhölle
Das Wort „anständig“ zum Beispiel: Es geht einem so leicht über die Lippen und fühlt sich in seiner scheinbar alle Moralität einschließenden Bündigkeit so natürlich, gut und richtig an, dass der Abgrund, der sich in ihm auftut, kaum noch wahrnehmbar ist. Und doch zählt „anständig“ spätestens seit der Posener Rede Heinrich Himmlers („Dies durchgehalten zu haben, und dabei anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht“) zu den unheimlichsten Wörtern der deutschen Sprache. Die Nationalsozialisten haben unsere Muttersprache so gründlich missbraucht, dass sie bis auf den heutigen Tag zuweilen verdächtig hohl klingt. Die Demokratie hat der Sprache gut getan, das ist wahr, allerdings wäre es naiv zu denken, sie sei seit 1945 oder 1968 oder 1989 von ideologischer Vereinnahmung und Verzerrung vollkommen frei. Gerade die voll tönenden Schlüsselbegriffe der marktkonformen Demokratie sind es nicht. Das Wort Freiheit bewegt Nationen, schrieb Novalis einmal; heute mobilisiert „Freiheit“ vor allem Konsumenten. Das Wort „Arbeit“ diszipliniert ganze Bevölkerungen. Das Wort „Markt“ verhext die ganze Welt. Wir haben es mit Zauberworten zu tun, mit Machtworten.
Übereinkünfte und Bestimmungen
Dessen ungeachtet sind uns die allermeisten Wörter derart ans Herz gewachsen, dass wir ihnen vertrauen wie den eigenen Sehnen, Muskeln und Träumen. Sind sie Teil unserer Natur? Jedenfalls lügen sie nicht. Sie sagen aus, was ist. Der Begriff „Krankheit“ etwa mag recht weit gefasst und daher unscharf sein, aber wer würde daran zweifeln, dass er den gesundheitlichen Zustand gewisser Lebewesen korrekt beschreibt! Wer würde daran zweifeln, dass es „Alter“ in Wirklichkeit gibt! Oder „Aussehen“, „Charakter“, „Geschlecht“, „Tod“! Diese Wörter haben sich in der Praxis so oft als treffend, verständlich und sinnvoll erwiesen, dass wir die durch sie bezeicheten Wirklichkeitsaspekte tatsächlich ohne jedes Zögern als natürliche Gegebenheiten anerkennen.
Andererseits wissen wir, dass die Sprache, zu denen diese Wörter gehören, die Geschichte gesellschaftlicher Übereinkünfte reflektiert. Grammatik und Wortschatz jeder natürlichen Sprache enthalten Spuren vergangener Lebenswirklichkeiten und Mitteilungsbedürfnisse, die nur noch für Experten lesbar sind. Sie konservieren aber auch Bestimmungen, die jedem Sprecher vollkommen geläufig und dabei so alt und elementar sind, dass ihr geschichtlicher Charakter so gut wie nie ins Bewusstsein gelangt. Ein Beispiel ist die Subjekt-Objekt-Syntax der europäischen Sprachen, in der sich wohl so etwas wie eine Präferenz realistischer Wirklichkeitsbezüge gegenüber mystischen Daseinsbekundungen ausdrückt. Zu nennen wäre auch die meist zweiwertige Genus-Struktur unserer Sprachen, die den Dualismus der Geschlechter auf alle Dinge überträgt und dadurch scheidet, was womöglich zusammengehört. Solche Bestimmungen, trennscharf und einleuchtend wie sie sind, haben sich gewiss nicht ohne praktischen Grund durchgesetzt – aber wahrscheinlich auch nicht ohne Gewalt. So wie das Latein, das Arabische, das Spanische und das Englische mit Feuer und Schwert verbreitet wurden, so war es vermutlich schon zu Urzeiten: Man riss den Altsprachlern – buchstäblich oder im übertragenen Sinne – die Zunge heraus, damit das von den Herrschern gesprochene Machtwort als „Übereinkunft“ Geschichte machen konnte.
Natur und Natürlichkeit
Jedermann missbraucht die Sprache zuweilen als Machtinstrument. Man denkt dabei zuerst an ihren rhetorischen Gebrauch im privaten Streit, in der politischen Auseinandersetzung, in Werbung und Propaganda. Dass die Instrumentalisierung bereits mit der Begriffsbestimmung beginnt, lässt sich ganz gut an der Bemächtigung des Wortes „Krankheit“ durch die Gesundheitsindustrie demonstrieren. Die Zahl der vom Medizinsektor offiziell als Krankheit eingestuften körperlichen oder seelischen Gebrechen ist im Laufe der letzten Jahrzehnte bekanntlich um ein Vielfaches angestiegen. Als krank gilt heute bereits die kleinste Abweichung von einer ebenfalls vehement vom Medizinsektor propagierten Idealgesundheit1. Diese definitorische Ausweitung, die einhergeht mit einer ungeheuren Steigerung wirtschaftlicher Macht, lässt sich vermutlich nur deshalb als humaner Fortschritt verkaufen, weil der Begriff Krankheit naturgemäß nach wie vor den Schrecken eines Sachverhalts heraufbeschwört und dadurch die Kritik des in dem Wort heute auch angezeigten Machtkalküls immer wieder ins Leere laufen lässt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Wort „Tod“, das heute eher für eine intensiv bewirtschaftete Zeitspanne als für einen existenziellen Wendepunkt steht: Die Kritik an dem neuen Tod findet umso weniger Gehör, je besser seine Profiteure es verstehen, die Angst vor dem alten zu schüren. Auch das Wort „Alter“, das einmal eine Lebensphase bezeichnete, dient seit der lukrativen Verschiebung der „Jugend “ bis zum „Tod“ in erster Linie der Panikmache.
Das Wort „Charakter“, das sich auf Unterschiede in der Natur bezieht, verleiht auch Artefakten den Anschein von Natürlichkeit. „Aussehen“ war nie reine, sondern immer schon veredelte, bewertete, benutzte, verkannte, verpfuschte Natur. Selbst „Geschlecht“ – oder zumindest „Gender“ – verweist auf inszenierte Natur, egal ob der Held des Stücks dem naturalistischen Rollenbild der Tradition entspricht oder der ebenfalls naturalistisch begründeten Dramaturgie der „sexuellen Orientierung“ folgt.
Fazit: Die Wörter, die scheinbar immer sagen, was ist, bezeichnen oftmals nur, was sein soll. Was authentische Natur abzubilden schien, erzeugt in Wahrheit zeitgemäße und herrschaftskonforme Natürlichkeit. Ist „Natur“ von allen Macht- und Zauberwörtern das perfideste, weil es etwas als unabänderbar hinstellt, was eben doch bloß geschichtlich ist?2
Entnaturalisierung
Aufklärung ist Kritik aufgezwungener Natürlichkeit. Doch sie bricht den faulen Zauber, damit der echte wirken kann. Sie will nicht Natur in Geschichte verwandeln, sondern Geschichte mit Natur versöhnen. Einige konstruktivistische Dogmatiker indes, die sich ebenfalls als Aufklärer verstehen, verfolgen ein ganz anderes Programm. Da die Wirklichkeit in ihren Augen nicht viel mehr ist als eine Sprechblase, sehen sie dort, wo vernünftigerweise die naturalen Grundlagen humaner Kultur zu suchen wären, nichts anderes als einen Text. Das biologische Geschlecht ist für sie keine Gegebenheit, sondern eine Vorschrift. Schwangerschaft ist keine Gnade, sondern eine Bestimmung. Geburt ist ein Ammenmärchen. Leben ist eine Erzählung. Tod ist eine Fiktion. Differenz ist Diskriminierung. „Natur ist Diktatur“ (Judith Butler). Wer diese Herrschaft abschütteln will, muss die tradierten Texte dekonstruieren. Allerdings begründet auch der dekonstruierte Text eine Tradition – und genau da beginnt das intellektuelle, moralische und ästhetische Debakel des Dekonstruktivismus. Insofern er der unseligen Erkenntnistheorie des Konstruktivismus verhaftet bleibt, kann er gar nichts anderes produzieren als immer neue Sprechblasen. „Freiheit“ und „Gleichheit“ klingen dabei nach jeder Revision hohler. „Wahrheit“? Gebannt vom faulen Zauber der Sprache, lässt sich zwischen richtig und falsch nicht anders mehr unterscheiden als durch – Machtworte.
Dekonstruktion im Namen der Aufklärung, vor vierzig Jahren die Obsession einiger Philosophen und Architekten, steht heute ziemlich weit oben auf der politischen Agenda etablierter bürgerlicher Parteien und Institutionen. Wohlgesinnte Parlamentarier, Regierungsbeamte, Geisteswissenschaftler, ganze Institute und Stiftungen haben sich der Mission verschrieben, Natur als gesellschaftliches Konstrukt zu entlarven, um die aufgeklärten Kulturkinder zu befähigen, endlich in ihre eigene Geschichte einzutreten. Die Protagonisten inszenieren ihre vielfältigen Aktivitäten in den Bereichen Sexualerziehung, Gender Mainstreaming, Social Egg Freezing, Familienpolitik und Reproduktionstechnologie effektvoll als Rebellion gegen das Machtkartell rückwärts gewandter Phallokraten3. Die evangelische Kirche schwingt sich (naturgemäß) aufs Trittbrett. Das Kapital wittert Chancen und arbeitet (logischerweise) an Businessplänen. Die Jugend lässt sich (wie immer) mitreißen und begibt sich (einmal mehr) auf „Wallfahrt zum Big Zeppelin“4. Aber was, um Gottes Willen, ist wirklich von einer Bewegung zu halten, die der Sprache bei aller berechtigten Kritik so sehr verhaftet bleibt, dass sie das Heil der Menschheit allen Ernstes in einem Prozess namens „Entnaturalisierung“ sucht? Wohin führt dieser seltsame Heilsweg? Wo beginnt er? Was genau hat es mit der Rebellion gegen die Natur auf sich?
Geschichte als Heilsweg
Rebellion gegen die Natur ist das Sakrileg, das Geschichte hervorbringt. Zeus und Jahwe sind ihre frühe Helden. Der Sieg der mythischen Menschengötter über die chtonischen Gottheiten der Naturreligionen ebnete das Terrain für Philosophen und Propheten, die dem Leben ganz neue Wege wiesen. Es sei mehr als ein Beispiel im Reigen der kosmischen Vorgänge, behaupteten sie. Zum mindesten der Mensch sei berufen, aus dem Kreis der ewigen Wiederkehr auszubrechen und sein Leben auf ein höheres Ziel auszurichten. Du kannst mehr sein als du bist, lautete die Botschaft. Du kannst dich entwickeln, kannst dich vervollkommnen, kannst über dich hinaus wachsen. Der Weg, auf den die Philosophen und Propheten ihr gelehriges Publikum einschworen, strebte weg von der Erde, weg von der Sonne und den Sternen einem eingebildeten Himmel entgegen. Der Geist, ehemals eins mit den Dingen, löste sich von ihnen ab und schwebte nun weit oben in einem Raum, in dem alles real zu sein schien, was denkbar war. Denkbar war etwa der jüdisch-christliche Jenseitsglaube, der das physische Erdenleben herabstuft zum bloßen Testlauf des ewigen Lebens im super-naturalen Himmel. Denkbar war auch die platonische Ideenlehre, die dem physisch Gegebenen überhaupt nur in dem Maße Lebendigkeit zugesteht, als es an der super-naturalen Lebensform der geistigen Entitäten teilhat. Der Geist, der die Natur übersteigt und überwindet: Diese Denkfigur prägte die europäische Mentalität maßgeblich.
Das Überwindungs-Phantasma steckte so tief in den Köpfen, dass es selbst die großen geistesgeschichtlichen Umwälzungen des 17. Jahrhunderts überdauerte. Zwar brach die moderne Naturwissenschaft die Herrschaft des klerikalen Rationalismus, doch blieb der nunmehr auf die Erde versetzte Himmel seiner letzten Bestimmung nach, was er immer war: ein intellektualistischer Traum von Vollkommenheit. „Wir wollen hier auf Erden schon/ Das Himmelreich errichten“, dichtete Heinrich Heine und umiss damit – wohl gegen seine Absicht – das Programm der modernen Geistlichkeit, die den Kirchen den Rücken kehrte, um künftig aus Universitäten, Technischen Hochschulen, Parlamenten, Börsensälen und Armeehauptquartieren heraus zu agieren.
An architektonischen Bemühungen zur Errichtung des Himmelreichs hat es seither nicht gefehlt, doch hat sich bislang noch kein Denkgebäude als tragfähig erwiesen. Nicht nur Kommunismus und Faschismus brachen spektakulär zusammen; einsturzgefährdet und damit lebensgefährlich sind naturgemäß sämtliche Konstruktionen, deren Tragwerk auf einer einzigen Säule der Wirklichkeit ruht – sei es die Psyche, die Gesellschaft, die Ökonomie, die Biologie, die Technik, die Physis, die Weiblichkeit, die Sprache oder was auch immer. Die Aufklärung hat Recht, wenn sie auf die Brüchigkeit dieser scheinheiligen Gebilde hinweist. Aber sie setzt sich ins Unrecht, wenn sie die Konventionalität aller Erkenntnis behauptet und damit die Scheinheiligkeit zum Maß aller Dinge erhebt. Sie spielt damit den Meinungsführern und Marktmachern in die Hände. Und einmal in ihrer Gewalt, verkommt der Geist tatsächlich zum bloßen Machtmitttel, das er immer war – aber nie ausschließlich.
Empfindung ursprünglicher Freiheit
Natur ist immer auch der Inbegriff des einzig Wahren gewesen, das Urbild der unverfälschten Realität, das durch zivilisatorische Eingriffe nur Schaden genommen hat und immer weiter entstellt wird. Dass alle Kultur ein zweifelhafter Gewinn ist, erkauft durch Abfall von urspünglicher Wahrheit und daher belastet mit dem Fluch ewiger Unsicherheit und Unzulänglichkeit, wussten schon die Erzähler der biblischen Geschichte vom Sündenfall, als sie das paradiesische Leben im Garten Eden mit der Mühsal und den Bitternissen des agrikulturellen Daseins kontrastierten.
Seit der Neolithischen Revolution vor 12000 Jahren geistert das „Unbehagen in der Kultur“ durch die Weltgeschichte. Wer inmitten der Dekadenz des antiken Roms ein wahrhaftiges Leben führen wollte, dem empfahlen die Stoiker, sich ein Beispiel an der Natur zu nehmen, deren „Willen“ man laut Epiktet „an den Dingen erkennen kann, über die keine Meinungsverschiedenheit unter uns herrscht“. Diese Dinge werden rarer, je weiter der Weltgeist fortschreitet. Und wie er Wahrheit zur Meinung fortentwickelt, verwandelt er Freiheit in Wohlanständigkeit, indem er sie ins Korsett bürgerlicher Gesetze zwängt, die oftmals nichts anderes sind als kodifiziertes Unrecht. Bereits im frühen 13. Jahrhundert kritisiert Eike von Repgow, der Verfasser des Sachsenspiegels, in der Einleitung seines berühmten Rechtsbuches die Grundlagen eben dieses Rechts. „Dass ein Mann einem anderen gehören kann“, leuchtet dem Autor nicht ein. Leibeigenschaft sei durch Gewalt entstanden, „die man seit Alters her in unrechte Gewohnheit gezogen hat und nun für Recht halten will“. Von der resignierten Kenntnisnahme „unrechter Gewohnheit“ im Mittelalter ist es nicht weit bis zu Rousseaus revolutionärer Zivilisationskritik und Marx’ Ideologiekritik, bis zu Thoreau und Montessori, bis zum Wandervogel und zu den Grünen von 1980.
Ohne jeden Zweifel wird die „Empfindung der ursprünglichen Freiheit“, von der Rousseau sprach, auch weiterhin für Aufruhr sorgen – und zwar nicht aus irgendwelchen philosophischen oder sonstwie abstrakten Gründen, sondern weil diese Empfindung der Urgrund aller poetischen Erfahrung ist. „Mich erzog der Wohllaut/ Des säuselnden Hains/ Und lieben lernt’ ich/ Unter den Blumen“5: Die Erinnerung an ein freies Leben unter den Blumen, in solchen Versen zum Klingen gebracht, trieb Gefangene der Geschichte zu allen Zeiten dazu, im Namen der Natur gegen die zivilisatorischen Ketten ihrer Zeit zu revoltieren.
Der eingebildete Himmel
Nun stellt sich die Frage, welcher Partei unsere dekonstruktivistischen Aufklärer eigentlich angehören. Der Rebellion des Intellekts gegen die Natur? Oder der Revolte der Natur gegen die Geschichte? Insofern sie sich ganz der entgrenzenden Kraft des „Begehrens“ verschworen haben und weder naturale noch geschichtliche Gegebenheiten hinzunehmen bereit sind, scheinen sie entschlossen, die Seiten je nach Laune zu wechseln. Das genau bedeutet wohl „queer“: die Spannung zwischen naturfeindlicher Intellektualität und geschichtskritischer Empfindsamkeit so auszuspielen, dass niemand vorhersehen kann, an welchem Widerstand sie wann durchschlägt. Diese Verratskultur, diese wilde Unberechenbarkeit hat durchaus etwas Faszinierendes. Dass die Jüngerschaft der „Queerness“ wächst, ist überhaupt nicht verwunderlich. Schon eher verwundert es, dass die Bewegung bei all ihrem antitraditionalistischen Furor in gewisser Weise eben doch an uralte Denkfiguren sich anschließt. Denn was will uns die in den Theorietexten in unverständlichem Wortschwall aufschießende utopische Hoffnung, dass die Menschen sich nicht einmal mit ihrer Natur abfinden müssen, eigentlich sagen? Sagt sie nicht dasselbe wie alle Utopie? „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“?
Verlangen, Sehnen, Begehren: Die zur Aktivität drängende Unruhe, die mich möglicherweise just in diesem Moment erfasst, ist zwar alles andere als abstrakt, aber ebenso real und konkret wird die Gemütsruhe nach dem Ende des Sturms sein. Die verabsolutierende Auszeichnung einer bestimmten Gefühlsregung gegenüber anderen verengt den Blick auf die Wirklichkeit. Ins Zentrum einer Theorie gesetzt, evoziert bereits der Begriff „Begehren“ alle Übel der Reduktion und Abstraktion: Realitätsblindheit, Wortgläubigkeit, Fanatismus, Dogmatismus, Häresie und so weiter bis hin zur Hasskultur, wie sie einem aus einigen feministisch-antifeministischen Internetforen entgegenschlägt. Dabei ist der Hass immer noch erträglicher als die Durchtriebenheit, mit der die Wortführer der „Entnaturalisierung“ ihr Anliegen vortragen. Die fanatisierte Foristin tobt sich nur aus, der coole Lobbyist macht Politik. Und das Ziel dieser Politik ist eben nicht die erlöste Natur, sondern der eingebildete Himmel, den die Geistlichkeit den Menschen seit eh und je gepredigt hat. Um in diesen Himmel zu kommen, müssten wir die Erde in uns begraben und den Kosmos in uns ersticken. Wir müssten alles Weibliche und alles Männliche in uns veräußern und wie ein Modegadget mit uns herumtragen, wir müssten die Familienbande kappen, die Kopulation ächten, Befruchtung und Schwangerschaft delegieren, die Geburt verkaufen, die Bildung vermarkten, das Leben verramschen, den Tod enteignen – wir müssten uns vollkommen gleich, rein, durchsichtig, kalkulierbar und disponierbar machen für den Gott der Geschichte, der uns dafür in der Theorie aufhebt und in der Praxis niedermacht.
Was wäre die Alternative? „Geistlich arm“ werden, wie Jesus es angeraten hat. Sich mit dem Kosmos verschwistern, wie Franz von Assisi es getan hat. Ein Beispiel geben. Ich danke dir für die schönen Früchte, Bruder Apfelbaum. Und wenn du auch klein bist, so liebe ich dich doch über alles, Schwester Himmelschlüsselchen.
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1) Als Beleg für die These: Heute noch normal, morgen schon verrückt (Die Zeit, 7.5.2013)
2) Wie das Bürgertum Natürlichkeit produziert, hat Roland Barthes 1957 in „Mythen des Alltags“ untersucht. Unaufhörlich drückten Presse und Kunst der geschichtlichen Wirklichkeit einen Stempel von „Natürlichkeit“ auf, klagte er und fuhr fort: „Die bürgerliche Klasse hat ihre Macht auf dem technischen und wissenschaftlichen Fortschritt aufgebaut, auf einer unbegrenzten Umwandlung der Natur; die bürgerliche Ideologie stellt eine unveränderliche Natur wieder her.“ Barthes richtete sich mit seiner Ideologiekritik an das verschämte Bürgertum der Nachkriegsjahre. Die postmodernen Entnaturalisierer betätigen sich als Stichwortgeber des durchgeknallten Bürgertums von heute.
3) Ein aktueller und aufschlussreicher Artikel zur Sexualerziehung im Zeichen der „Entnaturalisierung“: Unter dem Deckmantel der Vielfalt (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.10.2014)
4) In „Wallfahrt zum Big Zeppelin“ verbindet Franz-Josef Degenhardt ganz treffend Big Fun mit Big Business: „Sie sangen vom Big Zeppelin,/ dem riesiggroßen, dicken/ wie der die Welt, das wunde Weib, / tat heilen und erquicken./ Die Speier und die Spötter/ haben wieder mal gelacht/ und mit den bunten Vögeln/ ihr gut Geschäft gemacht.“
5) Poesie ist nie aufgedonnerte Sprache, oft aber wunderbare Sprachkritik – wie in Hölderlins Da ich einKnabe war. Das lyrische Ich dankt den „freundlichen Göttern“, die in der Kindheit namenlos waren: „Zwar damals rief ich noch nicht/ Euch mit Namen, auch ihr/ Nanntet mich nie, wie die Menschen sich nennen,/ Als kennten sie sich.“