Der Flow

Ich habe es mir in den Kopf gesetzt, den Flow zu erklären, weil ich denke: Wer den Flow nicht verstanden hat, weiß gar nichts, Jon Snow*. Da der Flow keine Idee, keine Sache und kein Stil ist, sondern ein Gefühl und ein Erlebnis, erkläre ich ihn am besten erst einmal am Beispiel und erzähle, wie ich letzten Donnerstag hinein gekommen bin …

Ich war mit dem Fahrrad unterwegs zur Sixt-Station „München-Bhf. Laim-Hirschgarten“, wo der Mercedes-Transporter, den ich Tags zuvor per Online-Reservierung gebucht hatte, für mich bereit gestellt worden war, wie ich annahm und sogar erwarten durfte. Die Abholsstation war mir unbekannt, aber da ich sie in Google Maps ausfindig gemacht hatte, kannte ich den Weg und strampelte vergnügt meinem Ziel entgegen. Ich war zeitig losgeradelt, mitten hinein in einen noch jungen, strahlenden Frühsommertag. Ich freute mich auf den Ausflug mit meiner Frau, auf die Fahrt mit dem übergroßen Auto, selbst auf die voraussichtlich schweißtreibende Gartenarbeit bei der Schwiegermutter in Augsburg. Nicht zuletzt fühlte es sich überaus gut an, dass ich mich nun endlich daranmachte, den Sessel und die Kommode herbeizuschaffen, die meine Tochter schon vor Monaten auf dem Dachboden der Oma entdeckt hatte und so gern in ihrem Zimmer aufstellen wollte. Ich war also bester Dinge, selbst dann noch, als ich an der Friedensheimer Brücke anlangte und von der Sixt-Station, die laut Plan dort sein musste, weit und breit nichts zu sehen war.

Ich durchkämmte zuerst die Neubausiedlung rechts der Brücke und danach die Industriebrache links der Brücke. Dort verwies mich schließlich ein Bauarbeiter an eine nahe Tankstelle, wo mich der Tankwart zurück in die Neubausiedlung schickte: „Sixt hat dort vor kurzem eine Station eröffnet, hundertprozentig. Fragen Sie am Kiosk gegenüber vom Supermarkt.“ Ich schöpfte neue Hoffnung und nach ein paar Metern Fahrt hatten sich meine letzten Sorgen und Zweifel in Luft aufgelöst. Als ich dann drei Minuten später verschwitzt im Kiosk stand, zeigte es sich allerdings sehr schnell, womit man rechnen muss, wenn einem jemand hundert Prozent von nichts anbietet. Hier im Viertel gebe es keine Autovermietung, sagte die attraktive Verkäuferin sehr bestimmt. Und mit derselben Bestimmtheit beschrieb sie mir den Weg zu der nächsten ihr bekannten Sixt-Filiale: „Fahren Sie über die Brücke und dann links, Richtung Zentrum; da ist sie dann gleich.“ Und richtig, genau an der beschriebenen Stelle fand ich eine Mietwagen-Station vor, leider wurde sie von der Firma Europ Car betrieben.

Was nun? Es war zum Haareraufen. Andererseits hatte mir die Bewegung im Freien gut getan. Vielleicht hatten mir auch die kurzen Begegnungen mit den fremden Menschen gut getan. Und dann war es ja auch so, dass der Himmel weiterhin so schön blau war und die Sonne weiterhin so schön schien. Erst einmal kramte ich jetzt die beiden Blätter heraus, die ich gestern ausgedruckt hatte: die Reservierungs-Bestätigung und ein zweites Blatt, vermutlich die Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Die auf der Bestätigung angegebene Stations-Adresse erschien mir mit einem Mal merkwürdig vage. „München-Bhf. Laim-Hirschgarten“. Keine Straße. Keine Hausnummer. Jeder halbwegs intelligente Zeitgenosse hätte spätestens jetzt bei Sixt angerufen. Mir jedoch fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen: Bahnhof Laim! Hirschgarten! Das ist doch ganz woanders! Der Karteneintrag bei Google Maps stimmte nicht. Ich war von einem scheiß Algorithmus oder von schludrigen Google-Programmierern verführt und in die Irre geleitet worden.

Mit einer Mischung aus Wut und neuer Zuversicht schwang ich mich also aufs Rad und machte mich auf den Weg zu der drei Kilometer entfernten, mir wohl bekannten Laimer Unterführung, einem rund hundert Meter langen Auto- und Fußgängertunnel, in dessen Mitte sich der Aufgang zum S-Bahnhof Laim befindet. Dass die Sixt-Station nicht direkt auf dem von Schienen umflossenen Bahnhofsgelände liegen konnte, war mir klar. Ich hatte sie diesseits des Tunnels auf der Landsberger Straße oder jenseits am Hirschgarten zu suchen. Dorthin radelte ich zuerst und geriet wieder in eine Neubausiedlung, in der ich nach Anhaltspunkten Auschau hielt. Die Firmenfarbe der Autovermietung Sixt ist bekanntlich ein kräftiges Orange. Und tatsächlich erspähte ich orangefarbene Flecken zwischen Häuserwänden und Buchsbaumhecken. Leider nur ein Bauzaun, ein Vorhang und ein Frisörschild, wie sich beim Näherkommen herausstellte. Nach einigem Hin und Her kam ich zu der Überzeugung, dass die Station wohl doch jenseits des Tunnels, auf der Landsberger Straße, zu finden sein musste. Aber auch dort suchte ich vergebens. Dafür wusste die Postbotin, der ich schließlich meine Reservierung unter die Nase hielt, etwas Neues. Auf die Postleitzahl der Station hatte ich bislang naturgemäß nicht geachtet. Die Fachfrau indes konzentrierte sich ganz auf die fünfstellige Ziffernfolge und schüttelte den Kopf. „Das muss drüben sein“, sagte sie mit größter Bestimmtheit. Hatte ich etwa zu früh aufgegeben? Verbarg sich hinter dem orangefarbenen Vorhang in der Neubausiedlung nicht eventuell doch eine Sixt-Filiale, eine ganz kleine, privat geführte vielleicht? War der Bauzaun ein Bauzaun gewesen oder war er Teil eines neu entwickelten, supersmarten Orientierungssystems? Sixt war eine moderne Firma. Alles war ihr zuzutrauen. Ich radelte los. Ich radelte zum dritten Mal durch den hundert Meter langen Tunnel mit dem Aufgang zum S-Bahnhof Laim in der Mitte, vor dem ein Straßenmusikant saß und „Blowin’ in the Wind“ zum Besten gab. Und nein. Die zwischen Eisenpfosten gespannten Plastikbänder markierten nichts anderes als eine Baustelle; hinter dem Vorhang lugte eine Katze hervor, kein Autovermieter.

Ich entschloss mich zu telefonieren und holte mein Mobiltelefon aus dem Rucksack. Ein Wunder, dass es überhaupt da war. Weil ich das Gerät sehr selten benutze, liegt es für gewöhnlich daheim in der Schublade, abgeschaltet natürlich. Jetzt erinnerte ich mich, dass ich es vor ein paar Tagen vorsichtshalber zu einem Geschäftstermin mitgenommen und dann im Rucksack vergessen hatte. Was soll ich sagen! Ich hatte das Handy nicht ausgeschaltet, die Batterie war leer, ich konnte nicht telefonieren. Und es gibt keine Telefonzellen mehr. Und keine Kneipe in der Nähe. Es blieb mir im Grunde genommen nichts anderes mehr übrig, als unverrichteter Dinge nach Hause zurückzufahren, wo ich vor meiner Frau dumm dastehen würde. Das wollte ich nicht. Zudem fühlte ich meine Kräfte trotz all dieser dämlichen Herumgurkerei eher wachsen als schwinden und gab daher meine Sache noch nicht verloren. Und überhaupt! Die laue Luft kam noch immer blau geflossen, als ich mich erneut zur Friedensheimer Brücke aufmachte, diesmal an der Nordseite der Gleisanlage entlang radelnd. Mein Ziel war der Kiosk in der ersten Neubausiedlung, besser gesagt: die attraktive Verkäuferin. Bestimmt würde sie mich bei ihr telefonieren lassen. Wen sonst sollte ich fragen in dieser großen weiten Welt? Der Rentner mit dem Hund, die Mutter mit dem Kinderwagen, die Skater in der Halfpipe, die Arbeiter in den Gleisen: das waren lediglich Bilder, die vorbei flogen. Der einzige reale und noch dazu liebenswerte Mensch in dieser fremden, seltsamen Welt, das war die Gute Fee der Stahlbetonwüste, die nach Kaugummi und Nikotin duftende Verkäuferin, die gewiss in diesem Augenblick vor ihren Neubaukiosk trat, eine Marlboro anzündete und auf mich wartete.

Als ich nach ungefähr zehn Minuten am Kiosk anlangte, stand sie drinnen hinter dem Tresen und bediente zwei Schulkinder. Ehe ich hineinging, kramte ich die Reservierung hervor und suchte nach einer Telefonnummer. Ich fand eine. Aber nur die des Sixt-Unternehmenssitzes in Pullach. Mein Plan, die Leute von der Station „München-Bhf.Laim-Hirschgarten“ zu fragen, wo man sie finden könne, war geplatzt (genau wie der seifenblasenartige Traum von der Verkäuferin). Ärgerlich wandte ich mich nun erstmals dem zweiten Blatt zu, von dem ich immer angenommen hatte, dort seien die AGBs aufgelistet. Ich las dort unter der Überschrift „Ihr Weg zu Sixt“ folgenden Hinweis: „Nach Ankunft am S-Bahnhof Laim begeben Sie sich bitte per Taxi zu unserer Sixt-Station München Pasinger Bahnhofsplatz (…) wir erstatten Ihnen die Kosten der Taxifahrt.“ Thank you very much. Die Station, die Google Maps unmittelbar vor der Friedensheimer Brücke verortet hatte, deren Adresse hingegen auf eine Lage in unmittelbarer Nähe der Laimer Unterführung hindeutete: Es gab sie gar nicht. Ich musste also nach Laim zurück und mich von dort mit einem Taxi zu Sixt kutschieren lassen. Bis zum Pasinger Bahnhof waren es sechs bis acht Kilometer von meinem jetztigen Standort aus. Trotzdem verzichtete ich aufs Taxi und radelte die ganze Strecke.

Bei Sixt in Pasing geriet ich dann an eine sehr charmante Mitarbeiterin, die mir erklärte, „München-Bhf-Laim-Hirschgarten“ sei eine virtuelle Station. Die Inbetriebnahme einer echten Abholstelle werde erst dann ernsthaft erwogen, wenn genügend Kunden dort buchten – und ob das der Fall sei, teste man gerade. „Aha“, sagte ich. „Ja“, sagte sie und machte ein süßes Gesicht. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn: „Meine eigene Blödheit“, murmelte ich. „Ich hätte das zweite Blatt beachten sollen.“ „Machen Sie sich nichts draus“, sagte sie lächelnd. „Sie sind nicht der einzige, der entnervt hier ankommt.“

Okay, Sixt hätte die „virtuelle Station“ besser kommunizieren müssen. Ich hätte mich ein bisschen aufregen, hätte ein bisschen rumschreien können. Aber ich war nicht entnervt – ich war die ganze Zeit im Flow gewesen.

„Tätigkeitsrausch“ übersetzt das Wörterbuch den Begriff. Ich würde sagen: „King-of-the-Road-Gefühl“ oder „Berserker-Modus“. Vermutlich sind Leute wie Barack Obama, Ursula von der Leyen oder Markus Lanz sehr oft, wenn nicht rund um die Uhr, im Flow. Doch handelt es sich dabei keineswegs um ein Privileg der Prominenz. Im Wirtschaftsleben bleibst du Produktmanager oder Pförtner, wenn du nicht in den unternehmensge­winnbringenden Flow hineinkommst. In vergangenen Zeiten waren es vermutlich am ehesten die Soldaten, die hineinkamen, wenn sie inmitten einer gewaltigen Horde von Kameraden in die Schlacht zogen. Man hat damals allerdings wohl nicht vom Flow gesprochen. Und wir Wohlgesinnten von heute tun uns schwer, Soldaten solch ein rauschhaftes und zugleich positiv besetztes Gefühl überhaupt zuzugestehen. Aber wie dem auch sei. Die oben vorgeschlagenen Definitionen reichen meiner Ansicht nach nicht hin, um den Flow zu erklären. Vielleicht lassen sich aus meinem Erlebnis ja ein paar Merkmale destillieren. Was ging da überhaupt vor sich?

Ich hatte eine Aufgabe zu bewältigen, die lösbar erschien, aber dann doch unerwartete Probleme barg. Aufgrund meiner positiven Grundstimmung, der stimulierenden Umgebung und der befreienden Dynamik des Geschehens ließ ich mich jedoch durch keinen Rückschlag frustrieren, sondern begriff jeden Fehlversuch im Gegenteil als einen Anreiz zum Weitermachen. Zwischenzeitlich verlor ich mich in der Aufgabe, ich ging in ihr auf, ich machte sie zu meinem Ein-und-Alles. Dafür schenkte sie mir unvergessliche Momente geistiger Präsenz, ästhetischer Empfindsamkeit und erotischer Spannung. Vor diesem Hintergrund spielte das enttäuschende Ende der Geschichte nicht die geringste Rolle. Die Lösung mochte ein Schlag ins Wasser gewesen sein, der mich als pitschnassen Halbidioten dastehen ließ. So what. Ich hatte mich lebendig gefühlt**. Und kommt es darauf nicht vor allen Dingen an?

Du weißt gar nichts, Jon Snow. Dein kleines privates Erlebnis in allen Ehren, aber der Flow ist ja doch noch ein bisschen was anderes. Eigentlich gehört der Begriff in die große Welt der Politik, der Wirtschaft und des Kulturbetriebs, wo er für den neuesten Trick der Machthaber steht. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass sie nicht mehr das Seelenheil, den Nationalstolz, das Klassenbewusstsein oder sonst eine ausgehöhlte Abstraktion ins Feld führen, um uns bei der Stange zu halten, sondern mit dem Leben argumentieren? Aufgaben? Lösungen? Scheißegal, mit was für einem Unsinn du dich beschäftigst, solange es dir Spaß macht. Der Weg ist das Ziel. Genieße den Prozess. Sei lebendig. Komm in den Flow.

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* „If you want to look you have to show. You know nothing, Jon Snow.“ J.R.R. Martin, The Song of Ice and Fire

** Dem Radeln kam dabei größte Bedeutung zu, und zwar nicht allein wegen der durchblutungsfördernden physischen Bewegung: Unterwegs-Sein belebt ja nicht zuletzt aufgrund des schnellen Orts- und Bilderwechsels. Dieser Effekt wird heute durch die mobile Internetnutzung simuliert und verstärkt. Neben den Eindrücken der realen Umgebung fliegen Bilder aus aller Welt vorbei. Smartphones sind (vielleicht in erster Linie?) Flow-Verstärker.