Eine epidemiologische Expertise ist nicht vonnöten, um festzustellen, dass es sich bei »Corona« auch um eine mentale Pandemie handelt. Das Virus SARS-CoV-2 mag als Krankheitserreger in die Welt gekommen sein, aber seit seiner Entdeckung ist es auch ein Bedeutungsträger. Es mag sich in menschlichen Organismen verbreiten, aber in Kommunikationskanälen geht es ebenfalls viral. Im Gewand immer neuer Berichte, Theorien, Narrative, Gesetze und Verordnungen hält es uns seit über einem Jahr in Atem. Um nicht unter der semantischen Viruslast zusammenzubrechen, haben die meisten von uns sehr frühzeitig eigene Standpunkte eingenommen, bieten sie doch die Möglichkeit, das Nachrichtengeschehen nach persönlichen Kriterien zu filtern, zu bewerten und einzuordnen. Wir urteilen eben nicht als logische Maschinen. Wir urteilen als die, die wir sind – als Kettenraucher oder Helmträger, Anarchisten oder Untertanen, Erotiker oder Erbsenzähler, gute Samariter oder Pharisäer.
Geteilte Öffentlichkeiten
Dementsprechend hört manch einer allein auf »die Wissenschaft«. Andere halten sich nur an den gesunden Menschenverstand. Dieser schwört auf Hendrik Streeck. Jene schwärmt für Christian Drosten. Die einen bemerken die reale Gefährdung Einzelner und ignorieren die drohende Zerrüttung des Ganzen. Die anderen wollen Spaß und pfeifen auf das Gesundheitssystem. Wieder andere malen exponentielle Kurven an die Wand, die es in der dargestellten Ungebrochenheit nur in der reinen Mathematik gibt. Manche sprechen vom Recht auf ein gesundes Leben. Manche verteidigen das Menschenrecht auf ein riskantes Leben gegen den totalitären Anspruch, der Staat müsse jeden Bürger vor jedweder Erkrankung schützen. Einige wenige wittern in allem die Blutgier unterweltlicher Reptilien, die uns naturgemäß die Juden auf den Hals gehetzt haben.
Lässt man die Irren einmal beiseite, sollte sich das bunte Bild einer nach Standpunkten geteilten, aber im übergreifenden Bekenntnis zur Meinungsfreiheit geeinten Bürgerschaft ergeben. Doch leider hat die mentale Pandemie ein äußerst besorgniserregendes Krankheitsbild erzeugt. Sie hat uns auseinandergerissen. Der Streit über die Beurteilung des Phänomens »Corona« findet praktisch in getrennten Öffentlichkeiten statt. Den viel beschworenen, für liberale Demokratien unabdingbaren, frei zugänglichen Debattenraum durchzieht eine Mauer, die mit jedem Tag undurchdringlicher wird.
Medien als Mauerbauer
Wer hat die Mauer hochgezogen? Wer ist verantwortlich für die Spaltung der Gesellschaft? Natürlich gibt es immer polarisierende Figuren, auf die man zeigen möchte. Andererseits sorgen gerade extreme Einzelmeinungen dafür, dass sich das für die persönliche Urteilsbildung unerlässliche Meinungsspektrum überhaupt auffächern kann. Wir brauchen Antipoden wie Wolfgang Wodarg und Karl Lauterbach schon allein deswegen, um uns gegebenenfalls von ihren Positionen absetzen zu können.
Nein, die Hauptverantwortung für den furchtbaren mentalen Pandemieschaden tragen nicht die Kommunikatoren, sondern die Regulatoren der relevanten Kommunikationskanäle. Indem die öffentlich rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, einige der bedeutendsten Zeitungen, zunehmend aber auch die großen Social-Media-Plattformen ihre Kanäle nach und nach für alle Beiträge sperren, die nicht der herrschenden Meinung entsprechen, ergreifen sie eindeutig Partei und erweisen sich dadurch als die eigentlichen Mauerbauer.
Die Situation ist so traurig, so skandalös, dass man stundenlang darüber lamentieren könnte. Hilfreicher als die Klage über die Tatsache der Spaltung ist aber die Frage nach ihrer Ursache. Warum verweigern sich so viele intelligente, junge, wohlgesinnte Menschen dem Dialog? Was steckt dahinter, wenn sich eine kleine Mehrheit das Recht zur Diskriminierung einer großen Minderheit anmaßt und dazu unentwegt das Lied von der Offenen Gesellschaft singt? Was hat es zu bedeuten, dass die Mehrheitspartei ihre Gegner unterschiedslos als Coronaleugner, Verschwörungstheoretiker oder gar Nazis verunglimpfen kann, ohne dass sich ein nennenswerter Protest der »Zivilgesellschaft« dagegen regt? Was hat es auf sich mit diesem postmodernen Bolschewismus, der immer unverhohlener nach der ungeteilten politischen Macht greift?
Eine Frage der Wahrnehmung
Die Fragen lassen sich vielleicht klären, wenn man das mentale Phänomen »Corona« genauer in Augenschein nimmt. Es gibt sich dann als Katalysator zu erkennen, der den bereits vor der Pandemie offenkundigen Spaltungsprozess beschleunigt und vertieft hat. Mehr noch als etwa »Klima« oder »Migration« oder »Gender« steht »Corona« für die Zuspitzung der Frage, wie mit den mehr oder weniger drängenden Problemen unserer Zeit umzugehen sei – oder noch grundlegender: wie diese Probleme wahrgenommen werden sollen. Meines Erachtens zeigt die mentale Pandemie besonders deutlich, dass es auf zwei konkurrierende, einander ausschließende Betrachtungsweisen hinausläuft.
Die einen sehen »Corona« als Gegebenheit an, mit der man sich bestmöglich arrangieren sollte. Die anderen betrachten »Corona« als Aufgabe, die umfassend gelöst werden muss.
Jene streben die Einhegung, diese die Vernichtung des Virus an. Jene setzen auf Selbstregulierung, diese auf Management. Jene lassen Ambivalenz zu, diese fordern Eindeutigkeit. Jene beachten bei der Wahl ihrer Mittel eine Vielzahl von Zwecken; diese mobilisieren um eines einzigen Zweckes willen alle verfügbaren Mittel. Jene lassen sich auch dann, wenn sie technische Maßnahmen ergreifen, von einem traditionellen Menschenbild leiten; diese orientieren sich auch dann, wenn sie humanitäre Absichten verfolgen, an übermenschlichen Reinheitsfiktionen. Jene agieren als liberale Demokraten, diese als totalitäre Technokraten.
„Weltgeschichtliche Aufgaben“
Die technokratische Versuchung ist das moderne Problem schlechthin. Bekanntlich erlagen ihr bereits die Jakobiner, als sie sich 1793 entschlossen, um der Vernunftherrschaft willen alle »Unvernünftigen« einen Kopf kürzer zu machen. Die bislang durchschlagendsten Versuche, »weltgeschichtliche Aufgaben« unter Aufbietung aller verfügbaren Mittel umfassend zu lösen, sollten ebenfalls hinlänglich bekannt sein.
Nun unterscheidet sich die heutige Situation zwar in vielerlei Hinsicht von der Lage im Vorfeld der historischen Totalitarismusexperimente. Aber die technokratische Versuchung ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Halb sind wir ihr schon erlegen, wenn wir glauben, dass die fatalen Systemzwänge, in die wir als Menschheit verstrickt sind, keine partikularen Fluchten mehr erlauben, sondern nur noch universale Lösungen zulassen würden. Erheben wir diesen Glaubenssatz zur Prämisse einer logischen Denkfigur, ergibt sich die formal richtige Schlussfolgerung, dass wir alle zur Lösung der globalen Probleme geeigneten Mittel auch tatsächlich einsetzen müssen.
Wie nun aber den Rest der Welt von der einzig richtigen Sichtweise überzeugen? Zum Glück für die Rechthaber bieten Wissenschaft und Technik heute Instrumente zur zielführenden Lenkung der trägen Massen, von denen frühere Machthaber nicht einmal zu träumen wagten. Die moderne Informationstechnologie ermöglicht nicht mehr nur die werbetechnische Manipulation von Weltanschauungen, sondern die maschinelle Erzeugung von Welterfahrungen. Die moderne Wissenschaft liefert nicht mehr nur provisorische Wirklichkeitsbeschreibungen, sondern prospektive Wirklichkeitsmodelle. Man kann die Leute auf Untergangsszenarien einstimmen. Man kann ihnen »weltgeschichtliche Aufgaben« vorlegen, deren Dringlichkeit sich niemand entziehen kann.
Und stimmt es denn nicht wirklich? Wo es um die Rettung des Planeten oder um die Bewahrung der nackten Existenz geht, wo also alles auf dem Spiel steht – muss da nicht alles erlaubt sein?
Populistische Expertokratie
»Corona« zeigt, wie leicht sich existenzielle Notsituationen konstruieren lassen und was sich überzeugte Anhänger der Technokratie heute schon erlauben. Aus medizinischer Sicht handelt es sich bei Covid-19 ja um eine Viruspandemie ernsten, aber nicht verheerenden Ausmaßes. Es steht vieles, aber bei weitem nicht alles auf dem Spiel. Dass man es trotzdem so aussehen lassen kann, liegt an dem hohen psychopolitischen Stellenwert der Gesundheit. Der leicht zu schürende Schrecken vor Krankheit und Tod ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Bevölkerungsmehrheit die technokratische Betrachtungsweise des Problems eindeutig favorisiert. Die Regierten wiederum verlangen von den Regierenden, sich der »selbstverständlichen« Sachbeurteilung anzuschließen. Die Exekutive soll sich nicht lange mit demokratischen Prozessen aufhalten, sie soll sich dem technokratischen Regime der Experten bedingungslos unterwerfen. Unter dem bestimmenden Einfluss der Virologen, Epidemiologen und Statistiker verengt sich die Lagebeurteilung dann immer weiter, so dass am Ende die Ausrottung der Krankheit tatsächlich über allen anderen Zwecken rangiert.
Das populistische Motto lautet nun: »Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.« Wer dieses binäre Alles-oder-Nichts-Narrativ hinterfragt und etwa anmerkt, dass in menschlicher Hinsicht auch ohne Würde, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Musik, ohne Tanz ohne Spiellaune und Kinderlachen alles nichts sei, gilt nun »zu Recht« als verdächtig. Wer das demokratische Sowohl-als-Auch gegen den totalitären Allgemeinen Willen verteidigt, wird nun »zu Recht« nicht mehr in Talkshows eingeladen und in die rechte Ecke gestellt. Heute schon darf jeder Nachrichtenmoderator die Dissidenten als asozial, pervers, verblödet, boshaft oder reaktionär beschimpfen. Morgen werden sie womöglich (wie unter Stalin) als »absterbende Klasse« markiert, die der Gesellschaftskörper um der Gesundheit willen ausscheiden muss. Denn Fortschritt verlangt Opfer.
Die Narrenhölle
Aber es geht nicht nur um Dissidenten. Denn die im Namen der Weltgesundheit waltende Technokratie produziert längst auch völlig unpolitische Opfer. Dazu gehören Gastwirte und Gewerbetreibende, Studenten und Kulturschaffende, Lehrer, Kinder und junge Eltern.
Warum die nach Millionen zählenden Leidtragenden immer noch still halten? Zum Wesen des totalitären Lösungswahns, der letztlich gar keine realistischen Ziele anstrebt, sondern Reinheitsfiktionen nachjagt, gehört neben der Propagierung immer neuer Feinde die ständige Verschärfung der Maßnahmen. Weil »die britische Mutation viel gefährlicher ist«, weil »es jetzt auch vermehrt Junge trifft«, weil »Schnelltests trügerische Ergebnisse produzieren« beugen am Ende auch die Verzagten immer wieder das Knie und machen mit.
Und man gebe sich keinen Illusionen hin: Die Große Angst vor dem Tod wird weiter geschürt werden. »Corona« ist nur das Vorspiel für die Tragödie namens »Klima«. Es gilt Hannah Arendts bitteres Fazit: »Je weniger die modernen Massen in dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder eine Narrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist.«
Dieser Aufsatz erschien auch auf achgut.com