»Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben.« Zum Glück hielt sich Hannah Arendt nicht allzu lange an ihren Vorsatz. Im Jahre 1933 aber, als die angehende Philosophin Deutschland verließ, war es ihr bitter ernst damit, und noch in dem berühmten Fernsehinterview, das der Journalist Günter Gaus 1964 mit ihr führte, bekundet sie ihre tiefe Skepsis gegenüber bestimmten Intellektuellen – jenen nämlich, die dem Wirklichen auch dann noch Vernunft zuschreiben, wenn es keine freie menschliche Regung mehr zulässt.
Nicht wenige dieser Zuschreiberlinge hatten auf die »Machtergreifung« der Nationalsozialisten mit freiwilliger Gleichschaltung reagiert, und zu Hannah Arendts Entsetzen gab es solche Leute auch in ihrem eigenen Bekanntenkreis. »Ich lebte in einem intellektuellen Milieu«, sagt sie. »Und ich konnte feststellen, dass unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Und das habe ich nie vergessen.«
Wie aber ist diese bemerkenswerte Anpassungsleistung zu erklären? Arendt verweist auf den übergroßen Einfallsreichtum der Geistesarbeiter: »Zu Hitler fiel ihnen etwas ein; und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz phantastische und interessante und komplizierte und hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden. Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle.«
Sie wissen es von vorn herein besser
Und das tun sie in diesen Tagen wieder. Im Unterschied zu den meist konservativen Gefolgschaftsopportunisten der 1930er Jahre sind es heute jedoch vor allem »linksliberale« Intellektuelle, denen garantiert immer etwas Grandioses einfällt, wenn es darum geht, den eigenen Zeitgeistkonformismus als Gebot der Vernunft darzustellen. Dass es sich bei den Einfällen nicht selten um luftige Konstruktionen handelt, die beim leisesten kritischen Windhauch umkippen, möchte ich anhand zweier Kommentare zur aktuellen Debatte um das Thema Meinungsfreiheit demonstrieren.
Bekanntlich kam jüngst eine Allensbach-Umfrage zu dem Ergebnis, »dass die Mehrheit der Deutschen die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht. Nur 45 Prozent der Befragten haben demzufolge das Gefühl, die politische Meinung könne frei geäußert werden. Das ist der niedrigste Wert in einer solchen Allensbach-Umfrage seit 1953.« Dass solch ein Befund Menschen irritiert, die sich zu den 45 Prozent rechnen, ist nicht verwunderlich. Aber wie umgehen mit der Irritation? Es läge nahe, den Vertretern der verunsicherten Mehrheit Fragen zu stellen und sich ihre Argumente in Ruhe anzuhören. Und selbst wenn es am Ende tatsächlich »nur« Gefühle wären, die sie zum Ausdruck brächten, müsste man sie mit Respekt zur Kenntnis nehmen – zumal es sich zumindest bei bestimmten Gefühlsregungen eigentlich doch um begründbare Denkbewegungen handelt. Fragen zu stellen, Argumente zu berücksichtigen und Gefühle ernst zu nehmen, gehört aber offenbar nicht zum Anforderungsprofil postmoderner Intellektueller. Meine beiden Kandidaten jedenfalls wissen es von vorn herein besser. Für den einen ist die weit verbreitete Sorge um die Meinungsfreiheit nichts anderes als ein Effekt rechter Propaganda. Für den anderen kann es echte Meinungsfreiheit ohnehin nur für echt freie Menschen geben.
Diese abenteuerliche These vertritt Daniel Loick. Er lehrt Politsche Philosophie an der Universität Amsterdam und hat einen Radiokommentar zum Thema verfasst, der kürzlich in »Sein und Streit« zu hören war (Deutschlandfunk Kultur, 27. Juni, hier nachzulesen). Loick beginnt generös: »Dem Wunsch, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, liegt ein richtiger Impuls zugrunde. Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist der Kern liberaler Freiheitsrechte.« Der nächste Satz lässt jedoch bereits erkennen, dass der Philosoph dieses Grundrecht zwar womöglich allen Bürgern zugesteht, aber nur einigen zutraut, es sinnvoll anzuwenden: »Nicht ohne Grund bringen es auch emanzipatorische soziale Bewegungen immer wieder gegen staatliche Zensurversuche oder Überwachungsmaßnahmen in Anschlag.« Das Wörtchen »auch« verrät es: Emanzipatorisch bewegte Zeitgenossen pochen gewissermaßen zu Recht auf ihr Recht – andere eher nicht. Wieso nicht? Handelt es sich bei den anderen etwa ausnahmslos um Trolle, Schreihälse, Demagogen? Haben emanzipatorische soziale Bewegungen die Vernunft gepachtet? Gibt es nicht auch gescheit argumentierende Leute, die sich nie vor den Karren einer »Bewegung« spannen lassen würden? Und ist das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht ohnehin ein Individualrecht?
Wer sagt, was gut und richtig ist?
Loick geht diesen Fragen aus dem Weg und wendet sich stattdessen dem Problem der sozialen Bedingtheit der Meinungsbildung zu. Man müsse fragen, wie Meinungen überhaupt zustande kommen. Schließlich seien wir »geprägt von unserer Erziehung, dem Austausch mit Familie und Freundeskreis, den Medien und allgemein den vorherrschenden Ideen und Vorstellungen.« Letztlich seien unsere Meinungen »Ergebnisse von gesellschaftlichen Prozessen«, woraus folge: »Wirklich frei ist unsere Meinung erst, wenn auch diese Prozesse frei sind.«
Kann das stimmen? Zwar lässt sich die Prägung menschlicher Individuen durch soziale, kulturelle und historische Gegebenheiten überhaupt nicht leugnen. Wir sind Kinder unserer Zeit. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Stereotype Sprechakte formen stereotype Rollenbilder. Aber gilt das alles absolut? Folgt aus der sozialen Bedingtheit der Meinungsbildung die totale Determiniertheit ihrer Ergebnisse? Offensichtlich ist das nicht der Fall. Anderenfalls hätte es unter unfreien Bedingungen keinerlei humanen Fortschritt geben können. Der durch katholische Dogmen geprägte Luther wäre niemals auf den Gedanken gekommen, die Kirche zu reformieren. Die unter den Herrschaftsbedingungen des Absolutismus lebenden Aufklärer des 18. Jahrhunderts hätten niemals den Mut gefasst, »sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen«. Französische Revolution, Arbeiterbewegung, Abolitionismus, Frauenemanzipation, Widerstand gegen Hitler: Nichts davon wäre möglich gewesen, wenn die Macht der Verhältnisse alles Denken, Sprechen und Handeln vollständig beherrschen würde. Im übrigen sind es keineswegs die mit den genannten historischen Bewegungen verbundenen Freiheitskämpfe allein, denen wir so etwas wie einen humanen Fortschritt verdanken. Die Geschichte lehrt, dass ungebremster, ideologisierter Freiheitsdrang geradewegs in den Terror totaler Herrschaft führt. Soll das nicht passieren, bedarf es einer vernünftigen Begrenzung der Freiheit. Die einzig vernünftige Gegenmacht aber ist das Gesetz.
Davon will der Kommentator, obleich er ein rechtsphilosophisches Hegel-Zitat wie eine Girlande in seinen Text flicht, jedoch weiterhin nichts wissen. Er hält an seiner Prämisse fest, dass es ohne freie Meinungsbildungsprozesse keine freie Meinungen geben kann. Institutionen wie Schule, Universität und Medienbetriebe müssten deshalb erst einmal »radikal demokratisiert« werden. Denn »nur in einem Diskurs von Freien und Gleichen können sich richtige Urteile und gute Gründe herausbilden.« Ein höchst fragwürdiger Satz. Denn wer beurteilt die Lage vor dem Durchbruch zur wahren Demokratie? Wer sagt, was gut und richtig ist? Wer entscheidet darüber, ob ein Meinungsbildungsprozess »sinnvoll« ist? Wer nobilitiert die Diskursteilnehmer zu »Freien und Gleichen«? Ernennt sich das freiheitsbewegte »Wir«-Kollektiv selbst zum Wohlfahrtsausschuss? Oder ist es am Ende der Philosoph, der die Bedingungen fürs korrekte Denken und Sprechen selbstherrlich diktiert?
Der Herr entwickelt Reinheitsfiktionen
Wie auch immer. Loick schürt jedenfalls mit den in Aussicht gestellten moralischen Effekten »radikaler Demokratisierung« Erwartungen, die jeder realistischen Einschätzung spotten. Im Grunde genommen entwickelt er Reinheitsfiktionen, wie totalitäre Bewegungen sie zur Mobilisierung von Menschen propagieren, die mit der realen Welt nicht mehr klarkommen.
Im Unterschied zu regulativen Ideen oder Leitbildern handelt es sich bei Reinheitsfiktionen um Heilsversprechen, deren absolute Einlösung zur notwendigen Bedingung für ein »gutes Leben« erklärt wird. Solche Versprechen lassen sich zwar nicht verwirklichen, können aber extrem verführerisch klingen, zumal ihnen manchmal durchaus vernünftige Motive zugrunde liegen. So ist es jedenfalls bei Loick. Die Anforderungen, die er an eine »wirklich« freie Meinungsbildung stellt, sind alles andere als verrückt. Der Diskurs, sagt er, soll inklusiv, egalitär und selbstreflektiv sein. Das heißt, man soll anderen zuhören, soll Machtworte nicht mit Argumenten verwechseln, soll Selbstkritik üben. Richtig ist auch: Zum freien Diskurs gehört Widerspruchsgeist. »Menschen in Machtpositionen müssen es sich gefallen lassen, dass ihnen öffentlich und auch lautstark widersprochen wird.«
Protest gegen einen totalitären Freiheitsbegriff
Was folgt, lässt allerdings aufhorchen: »Das gleiche gilt für das Tabuisieren und Zurückdrängen menschenfeindlicher Einstellungen, die sich etwa in rassistischen, sexistischen oder homophoben Sprechakten ausdrücken.«
Hier schlägt ein Tonfall durch, der aufgrund der Häufung stereotyper Kampfbegriffe stutzig macht. Zu oft werden neuerdings kritische Zeitgenossen als menschenfeindlich, rassistisch, sexistisch oder homophob gebranntmarkt, als dass man die Aussage unkommentiert hinnehmen könnte. Man hat den Eindruck, dass hier bereits „tabuisiert“ und „zurückgedrängt“ werden soll, was manch einen erst einmal nur als Frage oder Problem beschäftigt. Ist bereits die typisierende Wahrnehmung ethnischer Eigentümlichkeiten rassistisch oder nicht doch erst ihre ideologische Bewertung? Handelt es sich bei biologischen Geschlechtsmerkmalen um bloße Zuschreibungen? Ist es bereits homophob, sich weiterhin für den besonderen Schutz der traditionellen Familie einzusetzen?
Nicht zuletzt sind das philosophische Fragen des Typs: Was ist der Mensch? Wer sie nicht zulässt, ist an »freien Meinungsbildungsprozessen« letztlich überhaupt nicht interessiert. So jemand predigt Inklusion und praktiziert Exklusion. So jemand setzt das Wort Recht in Anführungszeichen und dekretiert »mit Hegel«, dass nur »zanken« will, wer Einsprüche gegen einen totalitären Freiheitsbegriff erhebt.
(Lesen Sie hier den zweiten Teil)