Als bloß angelernter Bürger habe ich mich mit der städtischen Wirklichkeit der arbeitsteiligen Produktion, des marktorientierten Handelns und der konsumistischen Lebensweise nie richtig anfreunden können. Lange Zeit hing ich dem Glauben an, dass mein Unbehagen ein Effekt gewisser Fehlentwicklungen und Schieflagen sei, für deren Zustandekommen man lediglich einen Teil der Bürgerschaft verantwortlich machen könne. Schuld waren das Kapital und seine „gierige“ Gefolgschaft, die Bourgeoisie. Den freiheitsliebenden Citoyen dagegen, der manchmal als politischer Rebell, oft aber auch als Künstler, Literat oder Wissenschaftler in Erscheinung tritt, hatte ich stets bewundert und von jeder Kritik ausgenommen. Das hat sich geändert. Beinahe jede aktuelle Nachricht aus der Welt der Wissenschaften und Künste scheint mir ein Beleg für die Richtigkeit der Marxschen These zu sein, dass in jedem Citoyen ein Bourgeois steckt.
Zur Bourgeoisie gehören heute freilich auch Arbeiter und Bauern, überhaupt alle Zeitgenossen, für die der Primat der Wirtschaft vor allen anderen menschlichen Angelegenheiten nicht in Frage steht (was den naivsten Propagandisten des Neoliberalismus und den durchtriebensten marxistischen Kritiker einschließt). Aber ist die Ökonomie wirklich unser Schicksal? Sind die drängenden Probleme der Gegenwart wirklich allein auf verfehltes Wirtschaften unter den Bedingungen eines unzeitgemäß gewordenen (oder noch nicht auf der Höhe der Zeit operierenden) Kapitalismus zurückzuführen? Ich glaube nicht. Diese Probleme haben entlegenere, tiefere Ursachen. Zu suchen sind sie meiner Meinung nach in jenem bürgerlichen Großprojekt, das Roland Barthes einmal die „Umwandlung von Natur in Geschichte“ genannt hat. Dabei geht es seit Urzeiten darum, organisch verbundene Einheiten des Lebens aus ihren naturalen Zusammenhängen zu reißen und nutzbringend zu kultivieren.
Es begann mit Metallen, Wildschafen und wildem Getreide. Inzwischen ist so ziemlich alles „eingebürgert“, was sich denken lässt: Zellen, Neuronen, Gene, Moleküle und Elementarteilchen, das Herz und die Seele, aber auch meteorologische Großsysteme wie das Klima oder einstmals jedem Einfluss entzogene biologische Gegebenheiten wie Geschlecht, Geburt und Tod. Als namhaft gemachte Objekte der Wissenschaften und Künste gehören diese Phänomene kaum mehr der Naturgeschichte an, vielmehr bilden sie Elemente der Kulturgeschichte. Selbst die Natur als Idee einer von der kulturellen Sphäre eindeutig zu unterscheidenden Ganzheit gehört der Kulturgeschichte an. Naturschutz und Naturschwärmerei sind ebenso wie die Naturwissenschaft bürgerlich-geschichtliche Phänomene.
Abgesehen davon, dass alle Kulturgüter letztlich geschichtlich, also veränderlich und vergänglich sind, haben sie noch etwas gemein. Wie schon gesagt: Zum einen konstituieren sie sich durch ihr Herausgerissen-Werden aus naturalen Zusammenhängen, also durch Akte der vereinzelnden Objektivierung; zum anderen müssen sie zu etwas nütze sein, um in der Welt zu bestehen. Versachlichung und Vernutzung sind die Bedingungen für den Erfolg der Kultur – zugleich sind sie ihre Erbsünden. Warum? Versachlichung führt als reduktionistischer Akt notwendig zu einseitigem Denken und damit zu fundamentalen Fehlurteilen über das Ganze; und Vernutzung führt notwendig zu einer Ethik der mächtigsten Interessen (also zur Preisgabe jeder Ethik). Erfolg und Erbsünde: Über beides kann man sich lang und breit auslassen, und je nachdem, wo auf dem Globus man zu Hause ist und welche Position man bekleidet, wird man eher die (humanitären, politischen, technischen) Erfolge oder die (ontologischen, religiösen, moralischen, ästhetischen) Sünden des Zivilisationsprozesses beschwören.
Vielleicht lässt sich über den aktuellen Stand der Dinge folgendes feststellen: Da sich die Technologie inzwischen vom Mittel zum Zweck der Kultur fortentwickelt hat, macht sich lächerlich, wer etwa nach ihrem sachlichen Wert oder ihrem Nutzen fragt, denn wir selbst sind heute Sache der Technologie und führen nur aus, was ihr nützt. Auch in der tiefsten Provinz ist das so. Freilich blühte dort noch vor wenigen Jahren etwas, das im jetzigen Zeitalter (das von manchen Intellektuellen in völliger Verkennung der Sachlage „Anthropozän“ genannt wird) skandalös anmuten muss: ungeteiltes, naturwüchsiges Leben.
Wann hat das jetzige Zeitalter begonnen? Welthistorisch bedeutsame Wendejahre gab es ja viele in den vergangenen Jahrzehnten. 1968 beispielsweise (na ja) oder 1977 (Markteinführung des Apple II), 1989 oder 2001 (9/11). In seinen Freibeuterschriften schlägt Pier Paolo Pasolini eine andere Zäsur vor: „In den Jahren 1971/72 begann eine der gewaltsamsten und vielleicht auch endgültigsten Restauratonsperioden der Geschichte“, schreibt er im Aufsatz Die erste, wahre Revolution von rechts. „Hinter dem Rücken aller Beteiligten wird die ,wahre‘ humanistische Tradition (nicht jene falsche der Ministerien, der Akademien, der Justiz und der Schulen) zerstört von der neuen Massenkultur und dem von der Technologie geschaffenen – und perspektivisch auf Jahrhunderte ausgerichteten – neuen Verhältnis von Produkt und Konsum. Die alte, frühindustrielle Bourgeoisie räumt das Feld für eine neue Bourgeoisie, die zunehmend und immer tiefer die Arbeiterklasse einbezieht, was schließlich zur Gleichsetzung von Bourgeoisie mit der Menschheit insgesamt führt. (…) Es gibt dazu keine Alternative als die, im Abseits zu stehen.“