Der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838–1916), ein überaus netter, humorvoller, der Sozialdemokratie nahestehender Mann, war ein Empirist reinsten Wassers. Auf die Frage nach der Existenz von Atomen pflegte er zu antworten: »Haben Sie welche gesehen?« Heute vor allem wegen der nach ihm benannten Mach-Zahl bekannt, inspirierte der skeptische Österreicher das Denken so unterschiedlicher Intellektueller wie Albert Einstein, Wladimir Iljitsch Lenin, B.F. Skinner, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Robert Musil. Einstein sagte einmal: »Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Mach auf die Relativitätstheorie gekommen wäre, wenn in der Zeit, als er jugendfrischen Geistes war, die Frage nach der Bedeutung der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit schon die Physiker bewegt hätte.«
Vielleicht kam Mach aber auch deshalb nicht darauf, weil er sich nie ausschließlich für Physik interessierte. Seine Forschungen zu den Grundlagen der Erkenntnis trugen ihm 1895 eine Philosophie-Professur in Wien ein – obwohl er stets bestritt, ein Philosoph zu sein »oder auch nur heißen zu wollen«. Mach lehnte metaphysische Erklärungsprinzipien strikt ab. Selbst weithin anerkannte Grundvorstellungen wie den Newtonschen Begriff des »Absoluten Raums« ließ er nicht gelten und ersetzte ihn durch ein Relativitätsprinzip, das wiederum Einstein auf die Fährte der Allgemeinen Relativitätstheorie brachte. Mach zufolge resultiert Naturerkenntnis allein aus der Erfahrung, die auf direkten oder durch Messinstrumente vermittelten Sinneseindrücken beruht. Wissenschaft ist für ihn die möglichst einfache, neutrale, mathematisch organisierte Beschreibung von Empfindungstatsachen. Der Wert dieser Beschreibungen bemisst sich letztlich nicht an ihrer Wahrheit, sondern an ihrem Nutzen. Wahrheit existiert nicht für sich, sondern lediglich als temporäre, evolutionär bedingte Übereinkunft. Im übrigen setzen sich nur die stärksten, ökonomisch-empirisch klarsten Ideen durch. Und Subjektivität zählt für Mach nicht dazu. In seinen Antimetaphysischen Vorbemerkungen stellt er lapidar fest: »Das Ich ist unrettbar.«
Selbst die Welt der Dinge existiert für den Antimetaphysiker nicht per se. Bäume, Steine und Wolken, aber auch Moleküle oder Elementarteilchen manifestieren sich als Komplexe von Sinneseindrücken (Farben, Töne, Gerüche, Drücke, Temperaturen etc.), die wir aufgrund ihrer relativen Beständigkeit als Einheiten wahrnehmen (Dingsymbole) und infolgedessen einheitlich benennen (Sprachsymbole). Die letzten, einfachsten Bausteine der Welt sind aber die elementaren Empfindungen. Der österreichische Philosoph Peter Kampits bemerkt dazu: »Durch die Auflösung dessen, was wir als Wirklichkeit ansehen, in Elemente, die in zerlegbaren Komplexen auftreten, ergibt sich die Möglichkeit, Qualitäten quantitativ zu beschreiben. Ihre gegenseitige Abhängigkeit ist allerdings nicht kausal zu verstehen, sondern nur funktional.« Machs Elementenlehre lasse »auch das Ich nur als ,funktionalen Zusammenhang von Elementen‘ erscheinen. Der Mensch erscheint als Elementenkomplex unter Elementenkomplexen, das Bewußtsein als Komplex von Empfindungen, die auf besondere Weise zusammenhängen, und Denken als eine Umformung dieser Komplexe.«
Machs Wirkung auf die Wiener Künstler und Intellektuellen des Fin de Siècle war nicht unerheblich, Furore machte sein sensualistischer Funktionalismus jedoch bei Physikern. Und das ist nicht verwunderlich. Die klassische Physik war zu Beginn des 20. Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten. Vor allem die Entdeckung der Quanten-Phänomene durch Max Planck verstörte die Wissenschaftler, weil das gleichzeitige Da- und Dortsein von Entitäten dem mechanistischen Naturverständnis der Newtonschen Tradition absolut zuwiderlief. Die Versuche, dem Unverstandenen mit immer neuen quantentheoretischen Atommodellen beizukommen, fruchteten nichts. Praktisch orientierte Forscher sprachen den Modellen jeglichen Wirklichkeitsbezug ab und hielten die Bemühungen der Theoretiker am Ende für reine Zahlenmystik. Es war Werner Heisenberg, dem 1925 der Durchbruch zum heutigen Verständnis des subatomaren Geschehens gelang. Seine »Quantentheoretische Umdeutung kinematischer und mechanischer Beziehungen« ist die Geburtststunde der modernen Quantenmechanik. Auch diese Lösung ist eine atomphysikalische Theorie – aber sie wurde unter weitgehender Missachtung der damals umlaufenden atomphysikalischen Theorien entwickelt. Heisenberg operierte einzig und allein mit Messdaten (durch Messinstrumente vermittelte Sinneseindrücke), die er mathematisch-funktional interpretierte. In gewisser Weise bestätigt die Quantenmechanik damit die Erschließungskraft der Lehre Ernst Machs. Sein auf Messung und Mathematik beruhender Funktionalismus, der weder Ich noch Welt kennt, sondern den autistischen Erregungsraum technisch kontrollierter Rezeptoren und Relationen für das Ganze ausgibt, blieb auch für die Elementarteilchenphysik sowie für die technische Nutzung der Quantenmechanik maßgebend. Ich glaube, er prägt die naturwissenschaftliche Methodik bis heute.
Werner Heisenbergs Zeitgenossen fühlten sich nicht sonderlich wohl in dem neuen Theoriegebäude. Der beengte Raum der Funktionen war ihnen nicht geheuer. Einstein grantelte: »Die Quantenmechanik ist sehr achtunggebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das noch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten [Gottes] bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der Alte nicht würfelt.« Und Niels Bohr stellte fest: »Wer über die Quantentheorie nicht entsetzt ist, der hat sie nicht verstanden.«
Es gehört zu den unheimlichen Aspekten unserer Zeit, dass die Quantentheorie heute niemanden mehr entsetzt. Dass Physiker sie mühelos erlernen und bedenkenlos weitergeben. Dass wir die aus ihr resultierende Technik (z. B. Laser) furchtlos anwenden. Dass wir es aufgegeben haben zu verstehen.
Wir lassen uns verrechnen
Funktionalismus ist keine Theorie des Verstehens, Funktionen erklären nichts. Zumindest sagen sie nichts darüber aus, was etwas in Wirklichkeit ist. Sie beschreiben lediglich, was sich unter bestimmten Bedingungen tut. Um gesetzmäßige Wirkungen in bestimmten Grenzen aufzuzeigen, blenden sie die Wirklichkeit im Ganzen aus. Galileos Fallgesetze stimmen, aber nur im Vakuum. Heisenbergs Gleichungen gehen auf, erfassen aber nur statistische Größen. Automatisierte Produktionsprozesse erleichtern die Arbeit, aber kosten Jobs. SUVs vermitteln besondere Fahrerlebnisse, aber verpesten die Luft. Programmiercode ist eine Sprache, mit der sich Kriege führen, aber keine Witze erzählen lassen. Hühnereier sind billig zu haben, aber nur um den Preis der Gleichgültigkeit gegenüber tierischem Elend. Kinder lassen sich reproduktionsmedizinisch herstellen, aber nur unter Preisgabe der Menschlichkeit. Marktwirtschaften blühen, aber verwüsten die Welt.
Weil funktionale Beschreibungen das Nicht-Beschriebene in keiner Weise repräsentieren, sind sie Ausdruck eines reduktionistisch-eingeengten Weltbezugs. Dabei spielt es keine Rolle, dass Funktionen oft hochkomplizierte systemische Zusammenhänge abbilden. Immer zählt nur die Arbeit und nie das Vergnügen, nur der Nutzen und nie der Wert, nur die Effizienz im Einzelnen und nie die Existenz im Ganzen. Alles dreht sich um die Optimierung des Outputs im Vergleich zu einem gegebenen Input; Elemente werden mit Elementen verglichen: Um nichts anderes geht es. Und weil sich heute so gut wie alle elementaren Beziehungen numerisch-algorithmisch erfassen lassen (Big Data), forciert der funktionalistische Elementarismus die überall greifbare, unverschämte Mathematisierung des modernen Lebens.
Um zu verstehen, warum wir uns heute mit Freuden verrechnen lassen, ist es vielleicht hilfreich, zwischen dem Bereitstellen und dem Erleben von Funktionalität zu unterscheiden. Letzteres kann schmerzlich sein, wenn einer von einem Hund gebissen oder von einer Pistolenkugel getroffen wird. Doch abgesehen von Situationen, in denen wir den Wirkungen funktionierender Systeme als Opfer ausgesetzt sind (zum Beispiel im Kontext von Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung), erleben wir Funktionalität als etwas fraglos Positives: Was klappt, macht Freude.
Und das gilt nicht nur für den Betrieb technischer Apparate oder die Arbeit, die leicht von der Hand geht, sondern auch für die meist unbewusste Nutznießung systemischer Abläufe einschließlich der natürlichen. Zu erleben, dass meine Beine mich tragen, meine Hände sich rühren, mein Herz schlägt und die Sonne mich wärmt, dass der Lenz wieder einmal Blüten treibt, der Autoverkehr einmal mehr in geordneten Bahnen fließt, der Supermarkt gut bestückt ist und der Rechner wie üblich hochfährt, ist einfach wundervoll und müsste uns jedesmal aufs Neue erstaunen, hielten wir nicht vieles davon ganz einfach für selbstverständlich. Was immer wir für fraglos gegeben erachten, egal ob es als physische Kraft der ersten Natur angehört oder als kulturell vermittelte Gewohnheit zur zweiten Natur geworden ist, erfahren und nutzen wir, ohne es recht zu merken oder gar verstehen zu müssen. Um den Arm zu heben, bedarf es keinerlei Kenntnis der biochemischen Vorgänge in den Muskeln. Um ein Auto zu steuern, muss der Fahrer mitnichten die Fahrzeugelektronik studiert haben. Man muss im Leben nichts über das globale Finanzsystem, die Physik der Sonne, den Such-Algorithmus von Google oder die Logistik von Aldi wissen, um über die Runden zu kommen.
Genuss von Funktionalität ist Genuss stimmiger Input-Output-Relationen: Ich betätige den Lichtschalter und die Beleuchtung geht an; ich klicke auf einen Link und die entsprechende Webseite erscheint; ich nehme eine Aspirin und der Kopfschmerz hört auf; ich denke »positiv« und werde »glücklich« – der Rest muss mich nichts angehen.
Doch naturgemäß ist dieser Rest alles andere als selbstverständlich. Und sofern es sich nicht um einfache mechanische Funktionen handelt (die den Regen ableitende Rinne, der den Nagel ins Holz treibende Hammer, die das Brett zerteilende Säge etc.), entzieht sich der Rest oftmals sogar der Wahrnehmung. Denn die wirklichen Prozesse zwischen Input und Output liegen ja meist nicht offen zutage, sondern laufen im Verborgenen ab. Wer sich für die Funktionsweise der Dinge interessiert, um sie zu optimieren oder auch nur zu »verstehen«, sieht sich also herausgefordert, das Verborgene im Einzelnen dingfest zu machen und offenzulegen. Mit anderen Worten: Um Funktionen wissenschaftlich oder technisch in den Griff zu bekommen, müssen sie in ähnlicher Weise gestellt werden, wie Polizisten den Einbrecher oder Jäger das Wild stellen.
Das vereinzelnde Stellen von Funktionen, die in der Natur meist in verborgenen Zusammenhängen wirksam sind, hat der Philosoph Martin Heidegger als Wesensmerkmal der Technik angesehen. Für ihn geht Technik nicht im Verfertigen und Verwenden von Werkzeugen auf, sie ist nicht lediglich Organ der auf Mittel-Optimierung reflektierenden »instrumentellen Vernunft« (Max Horkheimer), vielmehr gehört sie als »eine Weise des Entbergens« in den Bereich, wo Dinge sich zeigen und damit sozusagen ans Licht der Wahrheit gelangen.
Tatsächlich bildet das »entbergende« Stellen der Funktionen ja überall die Voraussetzung für die eigentliche technische Bearbeitung. Um einen Faustkeil hervorbringen zu können, war mehr vonnöten als technisch-handwerkliches Geschick: Der Mensch musste beim Hantieren mit Steinen bestimmte Wirkungen feststellen, damit er auf diese Wirkungen zugeschnittene Steine herstellen konnte. Um Greifwerkzeuge für Roboter konstruieren zu können, müssen Ingenieure zunächst von der Natur der menschlichen Hand absehen (zu der neben der vielfältigen Funktionalität des Greifens, Tastens, Zeigens und Gestikulierens ja auch die Morphologie und die Symbolik gehören) und das Greifen als maßgebliche Funktion herausstellen. Um den Rhein als Energiequelle nutzen zu können, müssen Kraftwerksplaner die Bedeutsamkeit des Stromes als Schifffahrtsweg, Ausflugsziel, Lebensraum oder Geschichtssymbol ignorieren und den Wasserfluss als funktional entscheidendes Merkmal hinstellen.
Nun erschöpft sich moderne Technik natürlich nicht im Stellen, Herstellen und Bereitstellen einzelner Funktionen. Die technisierte Welt präsentiert sich als ein durch vielfach ineinander verschlungene Forschungs-, Design-, Produktions-, Verteilungs- und Steuerungsprozesse erstelltes Ganzes, das Heidegger Bestand genannt hat. Der Bestand ist kein bloßer Vorrat an Produkten, Werkzeugen, »Techniken« oder Dienstleistungen, sondern eher das System aller Systeme, die von Menschen betrieben oder, wie Heidegger sagt, bestellt werden. Da der Mensch im Grunde genommen nicht anders als technisch auf die Wirklichkeit zugreifen kann, ist er auf das Bestellen des Bestandes in ähnlicher Weise eingestellt wie ein Anwendungsprogramm auf ein Betriebssystem. Um das schicksalhafte Eingestelltsein auf eine bestimmte, dem Menschen eigentümliche »Weise des Entbergens« zu bezeichnen, hat Heidegger den zunächst befremdlichen, aber im Rahmen seiner Technikphilosophie konsequenten Begriff Gestell gewählt:»Es ist nichts Technisches, nichts Maschinenartiges«, erläutert er. »Es ist die Weise, nach der sich das Wirkliche als Bestand entbirgt.«
Als das Wesen, das sich wohl oder übel ins Gestell schicken muss, sieht sich der Mensch nun allerdings einer existenziellen Gefahr ausgesetzt. Denn »sobald das Unverborgene nicht einmal mehr als Gegenstand, sondern ausschließlich als Bestand den Menschen angeht und der Mensch innerhalb des Gegenstandlosen nur noch der Besteller des Bestandes ist, – geht der Mensch am äußersten Rand des Absturzes, dorthin nämlich, wo er selber nur noch als Bestand genommen werden soll.“
Als Bestandteil hat sich der Mensch unmöglich gemacht, weil er sich selbst nurmehr als Mittel zum Zweck bzw. als Ressource für etwas anderes ansieht. So jemand mag den eigenen Körper ständig verbessern, wird sich aber nie gut darin fühlen. So jemand mag das eigene Land mit großem Engagement weiterentwickeln, wird aber nie heimisch darin sein. So jemand mag das eigene Kind aufgrund seiner Talente bewundern und fördern, wird es aber nicht um seiner selbst willen lieben. Solch ein enteignetes Subjekt muss kein »schlechter Mensch« sein, aber es ist in der technisierten Welt aufgegangen und als Naturwesen untergegangen.
Man tut, was man kann
»Selbst die Armen sind heute besser gestellt als die meisten Reichen es früher waren«, sagen die Fortschrittsfreunde und glauben, damit sei alles gesagt. Dass wir in vielerlei Hinsicht von der Mehrung des Bestandes profitieren, ist ja unbestreitbar. Doch zugleich verlieren wir den Boden unter den Füßen – und die Freiheit aus den Augen. Oder nicht? Zumindest dem ersten Teil des Befundes wird kaum jemand die Zustimmung versagen können. Wir leben immer abgehobener in dem Sinne, dass wir uns immer unabhängiger von jenen Bedingungen machen, die noch bis vor kurzem niemand in Frage stellte, weil sie jedem als fraglos gegeben erschienen. Es gibt heute keine natürliche Disposition mehr, die unhinterfragt hingenommen und als Schicksal angenommen werden müsste. Niemand muss sich mit seinen Makeln, seinen Krankheiten, seinem Geschlecht, seiner Mitwelt, seinem Tod abfinden. Nichts muss sein, wie es ist. Nahezu alles lässt sich ändern. Für nahezu alle Fragen hält die Technik Antworten bereit. Nahezu jedes Problem, das sie als lösbares Problem hinzustellen vermag, löst sie auch. Dadurch erhöhen sich Freiheitsgrade. Was auch immer wir tun wollen: die Technik stellt das geeignete Mittel zur Verfügung.
Wieso sollten wir also die Freiheit aus den Augen verlieren? Das Gegenteil ist der Fall. Wir realisieren Freiheit, indem wir der Natur immer mehr Funktionalität entreißen und unserem freien Willen unterwerfen. Wer also an den freien Willen und seine Zähmbarkeit durch die Vernunft glaubt, muss die These vom Freiheitsverlust als gegenstandslose Phantasterei zurückweisen. Insbesondere einem Menschen mit technischer Lebenseinstellung (»nichts ist so gut, als dass es nicht noch verbessert werden könnte«) wird man schwerlich auch nur den Hauch einer Ahnung davon vermitteln können, dass die allergrößte Gefahr für die Freiheit von der technischen Lebenseinstellung herrührt. Trotzdem möchte ich es versuchen.
Gemeinhin gilt als frei, wer tun und lassen kann, was er will. Diese Faustregel hat der Aufklärer und Zivilisationskritiker Jean-Jacques Rousseau aufgegriffen, aber in einem entscheidenden Punkt abgeändert. Den Unterschied zwischen dem herausfordernden »Tun-Können« und dem gewährenden »Sein-Lassen« hervorhebend, sagt er: »Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern darin, dass er nicht tun muss, was er nicht will.« Dem Willen, aufgefasst als Verlangen, etwas Bestimmtes zu tun, ist nicht zu trauen: Tun-Können ist für Rousseau immer schon Tun-Müssen. Diese im 18. Jahrhundert einigermaßen befremdliche Ansicht dürfte heute niemanden mehr verwundern. Um ihr beizupflichten, muss man sich nicht einmal jenen Neurologen anschließen, für die der freie Wille ohnehin bloß eine Illusion ist. Es reicht, für eine Weile die Waffen des Alltags zu strecken, den notorischen Macher in sich zum Schweigen zu bringen und die Verhältnisse sprechen zu lassen.
Dass wir systemischem Zwang ausgesetzt sind, spürt und weiß jeder. Dass wir unlösbar in vielfältig miteinander verwobene Versorgungs- und Informationsnetze eingebunden sind, nehmen wir als unabänderliche Tatsache hin. Dass wir tief verstrickt sind in die Geschicke einer hoch ökonomisierten, extrem arbeitsteiligen Weltgesellschaft, gilt als ausgemacht und selbst gewollt. Wer etwas will in solch einer Welt, der bekommt es in aller Regel auch. Freilich bekommt auch die Welt, was sie »will«, denn sie ist so eingerichtet, dass in ihr nichts liegen bleibt, was fortgeschafft, nichts bestehen bleibt, was ins Laufen gebracht, nichts ungetan bleibt, was getan werden kann. Wer etwas kann in dieser Welt, der ist angehalten, es zu tun, bevor es ein anderer tut. Können impliziert Müssen im modernen Leben. Und die Aufrechterhaltung dieses Lebens zwingt Individuen und ganze Gesellschaften zum konsequenten Handeln gemäß der eisernen militärischen Maxime: Jede Waffe, die eingesetzt werden kann, muss eingesetzt werden, bevor es der Feind tut. Wirtschaftsunternehmen müssen jede überzeugende Funktion (im Marketing spricht man von »Killerapplikation«) ohne jedes Zögern vermarkten, weil ihnen der Mitbewerber sonst zuvorkommt. In Produktform gegossene überzeugende Funktionen sind Angebote, die wir als Konsumenten nicht ausschlagen können. Darum heißen sie Must-haves. Ein Must-have zwingt mich, über mich hinauszuwachsen. Wenn ich auf seine Funktionalität verzichte, bleibe ich hinter meinen Möglichkeiten zurück und mache mich gesellschaftlich unmöglich. Ohne Automobil bin ich in bestimmten Gegenden verloren. Ohne Smartphone bin ich ein Nobody. Ohne das »Internet der Dinge« und seine vielfältigen Möglichkeiten der kontrollierten Optimierung aller Lebensvorgänge aus tiefstem Herzen zu bejahen, falle ich künftig aus jedem zivilisatorischen Raster. Man kauft, was geboten ist. Man sagt, was Gehör findet. Man tut, was man kann – und fährt gut dabei, weil man immer besser funktioniert.
Doch der Preis für die »Ausweitung der Kampfzone« (Michel Houellebecq) ist die persönliche Freiheit. Denn in einem Handlungsraum, in dem getan werden muss, was getan werden kann, bleibt für die berühmte, verfassungsrechtlich garantierte »freie Entfaltung der Persönlichkeit« schlechthin kein Platz.
Die aus vielerlei Sachzwängen und Marktzwängen resultierende Einschränkung der Handlungsfreiheit betrifft und bedrückt weltweit immer mehr Menschen ganz real; und nicht nur auf Individuen, sondern auch auf sozialen »Personen« wie Familien, Stämmen und Nationen lastet der Anpassungsdruck. Dass er sich nicht schon längst in einem allgemeinen Aufstand entladen hat, liegt daran, dass er zielsicher abgeleitet und für den Aufbau und Erhalt eines größeren Zusammenhangs verwendet wird. Zivilisation könnte man den Zusammenhang nennen. Oder Kapitalismus. Oder System. Oder Bestand. Oder einfach »Menschheit«. Jedenfalls handelt es sich um ein Ganzes, dem wir die Erweiterung unserer Möglichkeiten schulden und das uns darum Stück für Stück unserer individuellen Freiheit abverlangt.
Ganz ähnlich sieht es der Technikkritiker Theodore Kaczynski, der in den 1980er Jahren als »Una-Bomber« traurige Berühmtheit erlangte: »Während der technologische Prozess als Ganzes unsere Freiheit kontinuierlich einengt, scheint jeder einzelne Fortschritt für sich betrachtet wünschbar«, schreibt er in seinem gedankenvollen (leider Gottes aber auch gefühlsarmen) Manifest. »Elektrizität, fließendes Wasser in Häusern, schnelle Kommunikationsmittel auf weite Entfernung – wie könnte man diese Dinge oder andere der unzähligen technischen Fortschritte ablehnen, die die moderne Gesellschaft entstehen ließ? Es wäre absurd, sich zum Beispiel gegen die Einführung des Telefons aufzulehnen. Es hat viele Vorteile und keine Nachteile. [Andererseits] haben alle diese technischen Fortschritte zusammen die Welt geschaffen, in der das Schicksal des Durchschnittsbürgers nicht mehr in seiner eigenen Hand oder in der von Nachbarn und Freunden liegt, sondern von Politikern, Großunternehmen, Verwaltungen, verborgenen, anonymen Technikern und Bürokraten gesteuert wird, auf die er als Einzelner keinen Einfluss ausüben kann. Dieser Prozess wird sich auch in Zukunft fortsetzen. Ein Beispiel ist die Genmanipulation. Nur wenige werden sich der Einführung von Gentechnik widersetzen, die Erbkrankheiten vernichtet. Sie richtet keinen Schaden an und verhindert viel Leiden. Im ganzen gesehen werden aber die genetischen Verbesserungen den Menschen in ein manipuliertes Produkt verwandeln, das nichts mehr mit einer freien Schöpfung des Zufalls (oder Gott, je nach religiösen Glaubensvorstellungen) zu tun hat.«
Um Mensch zu bleiben, wusste Kaczynski sich nicht anders zu helfen, als die Schuld, die er der »Menschheit« nicht mehr zu zahlen bereit war, auf sich zu nehmen und seine Mitmenschen zu terrorisieren. Seine Briefbombenattacken richteten sich gegen prominente Protagonisten des technischen Fortschritts, aber auch gegen Studenten, Sekretärinnen und Flugzeugpassagiere. Drei Menschen verloren ihr Leben. Die Gefahr, die der Terrorist in der immer weitergehenden Technisierung der Welt verortete und der er sich auf seine Weise stellte, vermochte er durch seine verzweifelten Aktionen natürlich nicht zu entschärfen. Lässt sie sich überhaupt eindämmen, bannen, beseitigen? Wie können wir uns aus dem babylonischen Schuldturm der »Menschheit« befreien und Menschen bleiben?
Eine dämliche Frage, denn mit einer gescheiten Antwort ist nicht zu rechnen: Da die »Menschheit« eben nicht in einem begrenzten Gebäude, sondern im konturlosen Gestell haust, ist uns offenbar jeder Weg ins Freie verstellt. Oder hat das Gestell doch eine Grenze? Gehen wir auf im »Rasenden des Bestellens« (Heidegger)? Bewegt nicht jeden von uns auch die Ruhe des Befindens? Bin ich stets und ausschließlich der Jäger, der das Wild stellt? Oder bin ich nicht immer auch das Reh, das sich im Wald findet?
Über das »Sichfinden« des Menschen in seiner Umgebung hat der Philosoph Hermann Schmitz (1928–2021) sein ganzes Leben lang nachgedacht. Und eines der Ergebnisse dieses Nachdenkens war die Rettung des von Ernst Mach für »unrettbar« erachteten Ich. Wo der Physiker ein Konstrukt funktional zusammenhängender Sinnesdaten ausmacht, stößt der Philosoph auf einen Kern, der nicht konstruiert ist und daher auch nicht dekonstruiert werden kann.
Dieser Kern ist nicht die Person. Eine Person ist für Schmitz bereits ein in Konventionen eingebundener, der Sprache mächtiger Mensch, dessen Identität auf Selbstzuschreibungen beruht. Personen stellen sich als Frauen oder Männer, als Deutsche oder Kosmopoliten vor, indem sie sich mit bestimmten Merkmalen von Fraulichkeit, Männlichkeit, Deutschtum oder Kosmopolitismus in eins setzen.
Nun unterscheiden sich Selbstzuschreibungen in einem kritischen Punkt von allen anderen Zuschreibungen: Während diese eine Sache kennzeichnen, um sie mir bekannt zu machen, kennzeichnen jene ein »Wesen«, mit dem ich immer schon bekannt war – nämlich mich selbst. Bevor ich mich als dieser oder jener vorstellen kann, muss ich mich überhaupt erst einmal eingefunden haben auf der Party – ich muss da sein. »Selbstzuschreibung ist also nur möglich«, so Schmitz, »wenn ihr ein identifizierungsfreies Selbstbewusstsein ohne Selbstzuschreibung zu Grunde liegt.« Diese präpersonale Grundlage des Selbstbewusstseins ist das affektive Betroffensein: »Wenn ich z. B. Schmerzen habe, weiß ich sofort, dass ich leide, ohne einen Gequälten finden zu müssen, dem ich Identität mit mir zuschreibe.« Indem die Schmerzen mich betreffen, bin ich in ihnen gleichsam mitgegeben und insofern absolut eins mit ihnen. »In absoluter Identität kann jemand sich selbst finden, wenn das, was ihm begegnet, ohne Spielraum, ohne Vergleichbarkeit, merklich zusammenfällt.« Das ist etwa der Fall »im Zusammenfahren, in heftiger leiblicher Engung, beim plötzlichen Einbruch des Neuen, z.B. im Schreck, überwältigend aufzuckendem Schmerz, bei heftigem Ruck oder Windstoß, wenn man einen Schlag vor den Kopf erhält oder den Boden unter den Füßen verliert. Dann fallen die fünf Momente hier, jetzt, sein, dieses selbst, ich unausweichlich ohne Spielraum zusammen, während die Orientierung zusammengebrochen ist, so dass keine Merkmale für Identifizierung von etwas mit etwas unter dieser oder jener Hinsicht zur Verfügung stehen.«
Doch das Mitgegebensein des Ichs im Geschehen ereignet sich nicht nur in der »primitiven Gegenwart« schockhafter Einwirkungen. Jedes leibliche Gespür wie etwa Angst, Schmerz, Wollust, Hunger, Durst, Ekel, Frische, Müdigkeit oder Ergriffenheit von Gefühlen bietet die Möglichkeit des identifizierungsfreien Sichfindens. Als Leibwesen erfahre ich, dass ich mir nur zusammen mit den Atmosphären und Situationen meiner Umgebung gegeben bin. Und diese Erfahrung wiederum gewährt mir das unabweisbare mystische Gefühl, dass ich mir nur zusammen mit allem übrigen, was der Fall ist, gegeben bin.
Dieses Übrige geht natürlich über die »Menschheit« mit ihren sprachlich codierten Feststellungen und Identifizierungsangeboten weit hinaus. Wir befinden uns, wenn wir uns selbst finden, nicht in der Sprache als dem »Haus des Seins« (Heidegger), schon gar nicht in der »Schrift« als dem unentrinnbaren Spiel der Signifikanten (Jacques Derrida), sondern in der freien Natur. Und damit wären wir wieder bei Rousseau, dessen Denken um das offene, unverstelle Dasein kreist, das er durch den Zivilisationsprozess, also die »Menschheit«, in Frage gestellt sieht. Für die Natur schwärmt er vor allem deswegen, weil sie allein ein Dasein in Freiheit gewährt: Das gesellschaftliche Leben erklärt sich durch den Willen zum Können und Müssen und ist darum unfrei, das natürliche Leben spielt im Freien und ist darum frei.
Das Spiel ist aus
Gemeint ist natürlich kein Rundumsorglospaket in einem Freizeitpark. Freiheit wird nicht immer bequem, Natur nicht immer Landlust sein. Im Freien erleben wir Natürliches oftmals als Zumutung oder gar als bezwingende kosmische Aktivität, die weh tun und zum »vorzeitigen« Tod führen kann. Andererseits steht die Natur uns nicht als feindliche Macht gegenüber, die danach trachtet, uns klein zu machen oder zu vernichten. Genau genommen steht sie uns gar nicht gegenüber. Vielmehr gehören wir ihr in jedem Augenblick mit jeder Faser an. Sie atmet in uns. Sie singt, seufzt und träumt in uns. Das Leben ist ihr Geschenk an uns, das Sterben die erlösende Hingabe an sie. Insofern sie der Inbegriff des Lebendigen ist, kann auch Freiheit, verstanden als Inbegriff konkret freien Lebens, nichts anderes sein als ein in der Natur aufgehobenes Gut. Dieses Gut findet sich nicht im Plus Ultra obsessiver Überschreitungen. Es findet sich im Non Plus Ultra paradoxaler Grenzerfahrung.
Dass die Natur mörderisch enge Grenzen für das individuelle Leben zieht, erfahren wir immer dann, wenn wir an sie stoßen – im Fieber und im Frost, in der Atemnot, im Hunger, im Durst, im Schmerz, in der Todesangst. In Momenten existenzieller Not wird uns schlagartig klar, dass wir als Individuen in einem Verhältnis zum All stehen, das der Theologe Friedrich Schleiermacher als »schlechthinnige Abhängigkeit« bezeichnet hat. Freiheit im Freien ist deshalb eine paradoxale Angelegenheit. Es ist eine Freiheit in Abhängigkeit. Wer ganz auf sich gestellt in der Wildnis überleben will, muss Tag und Nacht tun, was fürs Überleben notwendig ist – in diesem Punkt stimmen alle Berichte wirklicher Aussteiger überein. Allerdings stimmen sie auch darin überein, dass es genau dieses notwendige Leben gewesen sei, das sie innerlich frei gemacht habe.
Der Witz dabei ist, dass Freiheit und Notwendigkeit in einem einzigen Punkt zusammenfallen. Vermutlich ist es der Punkt, an dem unterscheidende Feststellungen ohnehin keine Rolle mehr spielen, weil genau dort das Spiel beginnt. Im Spiel kann ich nicht tun, was ich will. Ich muss aber auch nicht tun, was ich nicht will. Ich muss mich nicht zwingen, dieses oder jenes zu tun. Ich lasse geschehen, was mit mir und in mir geschieht, ich klinke mich in das Gesamtgeschehen ein und verliere mich in ihm. Ich lasse mich und alles um mich herum sein. Genau darin erblickte Rousseau wohl das Wesen der Freiheit. Nicht aufs Wollen, Können oder Müssen kommt es an, sondern aufs Sein Lassen. Wer sich diesem Spiel voll und ganz hingibt, sucht immer noch nach Beeren, Pilzen oder Wasserstellen, verfolgt also weiterhin Ziele, doch liegen sie immer schon auf Wegen, die sich von selbst finden. Was aber nicht eigens in Gang gesetzt werden muss, sondern von selbst geht, nennen wir von Alters her das Natürliche. Frei sein heißt also nichts anderes als natürlich sein.
Selbstverständlich können wir auch drinnen spielen. Der Zusammenfall von Freiheit und Notwendigkeit im Spiel ereignet sich nicht nur »unter den Blumen« (Friedrich Hölderlin), sondern auch im »Weltinnenraum des Kapitals« (Peter Sloterdijk). Wenn Schiller sagt: »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« – dann meint er nicht nur den Beerensammler, sondern auch den Polizisten, die Personalchefin, den Müllmann und die Mathematikprofessorin. Es ist ganz klar: Auch superrationalistische Funktionsträger können sich spielend in jene Menschen verwandeln, die sie waren, bevor sie sich dem Funktionszusammenhang stellten. Die Freiheit, die im Spiel waltet, ist im Prinzip zu jeder Zeit und für jeden Menschen realisierbar, und ich glaube, genau diese immerwährende Anwesenheit des höchsten Gutes meinte Jesus von Nazareth mit seiner im Lukasevangelium bezeugten Aussage: »Das Reich Gottes ist mitten unter euch.«
Außer diesem Reich, das uns so nahe ist, dass wir buchstäblich nur mit dem Finger zu schnippen brauchen, um hinein zu gelangen, gibt es freilich auch jenes Exil, in dem wir gewöhnlich unsere Tage zubringen. Im Exil bestimmen Ziele, Zwecke, Gründe, Vorstellungen, Einstellungen und Absichten das Handeln. Im Exil muss getan werden, was getan werden kann. Im Exil muss jede Ressource zum Wohle des gesellschaftlichen Ganzen genutzt werden. Dass selbst das Freie Spiel vorm Geschick der Funktionalisierung nicht bewahrt bleibt, zeigen kommerzielle Schau-Spiel-Künste wie Werbung und Pornografie, aber auch motivationssteigernde Strategien wie Incentive und Gamification sowie die moderne Spieltheorie. Im funktionalistischen Exil werden Menschen heute spielerisch zur Verrichtung notwendig erscheinender Aufgaben gezwungen. Sie werden »ganz Mensch«, um ganze Arbeit zu leisten. Sie werden an der Hundeleine im Reich Gottes herumgeführt. Etwas Perfideres als diese naturgemäß im Namen der »Vernunft« durchgeführte Enteignung und Denaturierung der Individuen ist eigentlich nicht denkbar. Dennoch geschieht sogar das Undenkbare mit der größten Selbstverständlichkeit – zum Beispiel beim Work-out oder der quantifizierten Selbstoptimierung, wo Natur zum Kult, Freiheit zur Pflichtübung und Spiel zur Schufterei gerät.