Sprachgläubigkeit

„If every word I said could make you laugh I’d talk forever.“ Dennis Wilson

Ich habe mich immer zu Heidegger hingezogen gefühlt, allein schon wegen solcher Wörter wie Gestell. Auch zu Derrida habe ich mich hingezogen gefühlt. Neuerdings fühle ich mich zu Judith Butler hingezogen. Zugleich werde ich abgestoßen von diesen Denkern. Ich schlage ein Buch auf, beginne mit der größten Neugier zu lesen und werde bereits nach wenigen Zeilen abgestoßen. Ich werde auch von Einführungen und kurzen Darstellungen, sogar von Wikipedia-Artikeln abgestoßen. Ich glaube, diese Denker haben eingesehen, dass etwas falsch läuft in der Welt und dass dieses Falsche etwas mit der Sprache zu tun hat. Aber sie verrennen sich augenblicklich, weil sie dem Falschen mit dem Falschen beikommen wollen. Sie bleiben der Sprache verhaftet. Sie wollen das Unerhörte zum Klingen bringen, wollen es einsehbar, spürbar, fühlbar, handhabbar machen (das zieht mich an ihnen an), aber sie verschmähen es, ihre Augen und Ohren aufzusperren, ihre Hände zu gebrauchen oder ihr Gefühl zu entwickeln (das stößt mich bei ihnen ab). Täten sie all dies, könnten sie vielleicht die Dichter werden, denen sie insgeheim nacheifern. Als Philosophen verstellen sie lediglich die Sicht mit neuen, frigiden Terminologien. Terminologien sind Fixsterne, um die bevorzugt Jünger, Gläubige und Ideologen kreisen. Und das sind Leute, die unter Garantie dafür sorgen, dass es weiterhin falsch läuft in der Welt. Dennoch kann ich diesen Denkern, die mir ungeheuer fremd sind, mehr abgewinnen als meinen Brüdern, den Ingenieuren und Technologen. Ich bin ihnen so nahe und kann ihnen doch nicht folgen. Ihre Sprache ist Information, ist reine, wohldefinierte Mitteilung. Manchmal scheint mir, sie hätten für diese Sprache ihre Seele hingegeben. Wie dem auch sei. Ich habe ein paar Gedanken gesammelt, die um das Problem der Sprache kreisen. Voilà.

Linguistical Correctness

Das Wort „ausdrucken“, das sich in den Neunzigern mit dem Aufkommen erschwinglicher Nadelstift- und Tintendrucker in der Alltagssprache durchzusetzen begann, wurde anfangs von sprachgläubigen Bildungsbürgern belächelt. Auch einige meiner Kollegen (ich arbeitete damals in einem Hamburger Zeitschriften-Verlag) machten sich darüber lustig. Ihr Argument war: Das Wort gebe es nicht. Es heiße drucken und nicht ausdrucken. Die Leute hatten nicht verstanden, dass Sprache ein lebendiger Organismus ist. Sie dachten, Sprache sei ein geschlossenes, von der Duden-Redaktion und anderen anerkannten Sprachwächtern verwaltetes Mitteilungs-System. Statt die Kreativität der Sprechenden zu bewundern, fühlten sie sich in ihrem Bildungsdünkel über sie erhaben. Sie gefielen sich darin, Fehler anzustreichen, wie sie es in der Schule gelernt hatten. Auf die Idee, dass es möglich sei im Leben dazu zu lernen, kamen sie nicht.

Dx Sprechx

Was soll ich schreiben? Die Sprecher, die Sprechenden, die SprecherInnen, die Sprecher_innen? Dx Sprechx? Um die Frage zu kären, ist es hilfreich, sich einige Axiome der Sprachlehre Ferdinand de Saussures zu vergegenwärtigen. Eines besagt, dass die Verbindung zwischen dem Wort und seiner Bedeutung arbiträr, also zufällig sei. Genauer gesagt: Mit welcher Laut- oder Buchstabenkombination wir ein Objekt bezeichnen, legt die Sprachgemeinschaft willkürlich fest, wobei die realen Eigenschaften des Objekts bei der Benennung eigentlich keine Rolle spielen (ein Baum kann „Baum“ heißen, aber auch völlig anders, beispielsweise „arbre“ oder „tree“). Ein anderes Axiom besagt, dass die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens weniger durch die Gestalt des Zeichens selbst als durch die Gestalt der umgebenden Zeichen festgelegt sei (dieser Grundsatz bildet das Fundament des linguistischen Strukturalismus).

Die Gültigkeit dieser Axiome lässt sich ganz gut anhand des sprachlichen Phänomens der Homonymie demonstrieren: „Läufer“ kann je nach Kontext ein Mensch sein, eine Schachfigur oder ein Teppich; „Scheiße“ kann auf Exkremente verweisen, kann Missbilligung oder Enttäuschung anzeigen, kann aber auch im Gegenteil Staunen und Anerkennung zum Ausdruck bringen (etwas ist scheißgut). Entsprechend hängt auch die Bedeutung von Wörtern wie „Frau“ oder „Mann“ von den Kontexten ab, in denen wir sie benutzen. „Frau“ kann als Begriff den weiblichen Menschen im Allgemeinen meinen, kann aber auch als Anredefloskel auf die eine, konkrete Person bezogen sein, die mir vielleicht in diesem Augenblick als Chefin, Verkäuferin oder Passantin gegenübersteht. Im zweiten Fall bedeutet das Wort „Frau“ zunächst einmal fast gar nichts, weil es die situativen und intentionalen Bedingungen sind, die das kommunikative Geschehen bestimmen – und nicht ein sprachliches Partikelchen. Das sprachliche Partikelchen „Frau“ bzw. „Herr“ reflektiert lediglich den unzweideutig wahrgenommenen Unterschied zwischen einem weiblichen oder männlichen Gegenüber (sollte dieser Unterschied aus irgend einem Grund nicht erkennbar sein, wird man die Wörter „Frau“ oder „Herr“ tunlichst vermeiden).

Natürlich kann das Wort „Frau“ im Verlauf der Unterhaltung eine differenzierte Bedeutung erlangen, indem ich ihm zum Beispiel einen höflich-distanzerenden, herzlichen, devoten oder abschätzigen Sinn beilege. Allgemein gilt jedenfalls: In den Sprachspielen der konkreten Kommunikation ist die lexikalische Bedeutung eines Wortes allenfalls so etwas wie ein ruhender Ball, während die tatsächliche Bedeutung durch die Sprecher festgelegt wird, indem sie den Ball so oder so führen.

Wenn ich „Sprecher“ sage, kann das selbstverständlich auch vielerlei bedeuten: den oder die männlichen Sprecher, aber auch die weiblichen Sprecher oder die menschlichen Sprecher. Dabei ist klar: Dass wir für geschlechtsübergreifende Bezeichnungen im Deutschen immer noch vorwiegend die maskuline Form der Substantive verwenden, ist ein Beispiel für die sprachliche Konservierung jahrhundertelanger patriarchaler Verhältnisse. Zu Recht weisen uns Feministinnen auf diese Tatsache hin. Andererseits konserviert die Sprache eine Fülle von Festlegungen, über deren ursprüngliche Bedeutung sich so gut wie niemand mehr im Klaren ist und sein muss, weil die Formen längst für etwas anderes stehen. Die Sprache wandelt sich. Und sie wandelt sich nicht nur in dem Sinne, dass alte Formen durch neue ersetzt werden, sondern auch dadurch, dass alte Formen neue Bedeutungen annehmen. Die „Dirne“ war vorgestern ein junges Mädchen, gestern war sie eine Prostituierte, heute ist sie in der bayerischen Variante „Dirndl“ ein Kleid. Der „Herr“ war einmal Gott, heute ist er eine aussterbende Höflichkeitsfloskel. „Begabung“ war einmal ein Geschenk, heute ist sie ein genetisches Mitbringsel. „Kultur“ bezog sich einmal auf Ackerbau, heute bezieht sie sich auf den Kunstbetrieb oder auf Lebensformen.

Auch die herkömmliche Form zur Bezeichnung geschlechtsübergreifender Gruppen hat einen Bedeutungswandel erfahren: Der Ausdruck „Die Sprecher“ bezeichnete einmal Menschen, heute kennzeichnet er darüber hinaus den, der ihn gebraucht, als sprachkonservativen Menschen. Zwar ist Sprachkonservatismus aus unkritischer Treue zu einem Prinzip oder einer Tradition eine zweifelhafte Tugend (siehe oben), aber manchmal sprechen eben gute Gründe für das Prinzip und die Tradition. Erstens: „Die Sprecher“ ist einfacher und schöner als „die SprecherInnen“ oder „die Sprecher_innen“ (praktisch-ästhetisches Argument). Zweitens: „Die Sprecher“ wird von allen Sprechenden völlig mühelos kontextbezogen, also adäquat verstanden (strukturalistisches Argument). Drittens: „Die Sprecher“ ist immer noch die in der Bevölkerung vorherrschende Form, während neue Formen lediglich von Minderheiten ins Spiel gebracht werden (demokratisches Argument). Viertens: „Die Sprecher“ ist eine Oberfläche mit sprachgeschichtlicher Tiefe, während neue, künstliche Formen zwar etwas bedeuten, aber nichts zum Klingen bringen (sentimentalisches Argument).

Am trifftigsten ist zweifellos der strukturalistische Grund. Jedes Kind kommt mit dem Sprechen und den „Sprechern“ völlig problemlos zurecht – außer jenen Intellektuellen, die nur den Ball sehen und nicht das Spiel.

Vive la Différence

Aus der Zeit: „Umso begeisterter wurde Derrida in Amerika aufgenommen. Erst von den Literaturkritikern um Paul de Man und (…) schließlich von Feministinnen wie Judith Butler, die mit Derrida die Polarität der Geschlechtsverhältnisse in ihrer Queer-Theorie auflöste.“ An dem Satz ist eigentlich nichts auszusetzen. Aufgefallen ist mir dennoch die Aussage „Judith Butler löste mit Derrida die Polarität der Geschlechtsverhältnisse in ihrer Queer-Theorie auf.“ Im Kern: „Judith Butler löste die Polarität der Geschlechtsverhältnisse auf.“ Wo liegt das Problem? Es liegt darin, dass der Satz von Lesern, die zwischen Wissenschaft und Geisteswissenschaft keinen Unterschied machen, höchstwahrscheinlich im Sinne eines Tatsachennachweises verstanden wird. Das heißt: Judith Butlers durch Derridas Meinung gestützte Meinung, dass die Geschlechtsverhältnisse nicht-polarer Natur seien, wird schlicht für wahr genommen. Vive la Scholastik!

Geschichtslektionen

Obwohl Michael Hanekes Filme gut sind, mag ich sie nicht sonderlich. Das gilt insbesondere für „Das weiße Band“. In diesem Beispiel geht es mir freilich weniger um eine Bewertung des Films als um die Art und Weise, wie in einigen Medien darüber gesprochen wurde. In der Zeit vom 15. Oktober 2009 heißt es gleich im Vorspann: „Michael Hanekes Film ,Das weiße Band‘ erforscht das Schweigen der Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg.“ Mir kommt es auf das Wort „erforscht“ an. Keine Frage: Das kann man schon mal sagen in einer Kritik – dass ein Künstler in seinem Werk etwas erforscht. Zugleich aber muss klar sein, dass es sich bei der Forschungsarbeit des Künstlers nicht um eine wissenschaftliche Studie, sondern um eine höchst subjektive und daher unsichere Angelegenheit handelt. In der genannten Kritik wird das nicht klar. Im Gegenteil. Der Autor des Beitrags vermittelt den Eindruck, Haneke habe geschichtliche Vorgänge nicht subjektiv interpretiert, sondern objektiv dargestellt. „Man möchte auf keinen Fall so sein wie diese da – die Kinder aus Hanekes Film“, heißt es an einer Stelle. „Und zugleich weiß man, dass man von eben diesen Kindern abstammt.“ Derartige Stellen gibt es viele. Die ganze Kritik behandelt eine filmische Erzählung wie eine historische Untersuchung, die Leopold Rankes Frage „Wie ist es gewesen?“ mit einem bündigen „Genau so“ beantwortet.

Das ärgert mich im Fall von „Das weiße Band“ besonders, weil mir Zeit und Örtlichkeit von Hanekes Story nicht ganz fremd sind. Aus Erzählungen meiner Großeltern und zum Teil aus eigener Erfahrung (vormoderne Verhältnisse kennzeichneten das Landleben bis Anfang der 1970er Jahre) ergibt sich für mich ein Bild des Lebens in einem norddeutschen Dorf, das sich von Hanekes Version erheblich unterscheidet. Meiner Ansicht nach verzerrt die Geschichts-Interpretation des Regisseurs das Bild nicht einfach bis zur Karikatur, vielmehr geht sie in ihrer Einseitigkeit und Eigenwilligkeit so weit, dass ich in Konfiguration, Handlung und Atmosphäre des Films eher ein Selbstbild des Autors erblicke als ein Abbild historischer Realität. Natürlich kann so etwas große Kunst sein, und in der Tat wird niemand diesem Film eine gewisse Klasse absprechen wollen. Der Vorwurf richtet sich eher an die Rezensenten: Seht, begreift und beschreibt solch eine Arbeit bitteschön als ein Kunstwerk und nicht als eine Art nachträglich erstelltes Zeitdokument.

Leider ist es in der Medienwelt inzwischen fast üblich, Künstler, Journalisten oder Tatort-Drehbuchschreiber als die besseren Historiker anzusehen. Niemand scheint ein Problem mit der Literarisierung der Geschichte zu haben. Man bekommt immer mehr den Eindruck, das Feuilleton begreife sich überhaupt nicht mehr als Vermittler zwischen Kunst und Leben, sondern sei nurmehr darauf aus, beliebigen Geschehnissen einen Platz im eigenen diffus-modernistischen Weltbild zuzuweisen. Fällt das Geschehnis nur etwas aus dem Rahmen wie beispielsweise die TV-Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“, erheben sich Zeigefinger. Ansonsten wird noch der übelste Kitsch (auch in der Geschichtsschreibung ist Kitsch identisch mit Einseitigkeit) durchgewinkt. Vielleicht macht man sich ein bisschen lustig über Guido Knopps „History“-Kosmos oder commercials wie „Die Wanderhure“, aber die Werke von Angehörigen des literarischen Starsystems wie Uwe Tellkamp, Richard Ford, Hilary Mantel oder eben Michael Haneke werden praktisch unbesehen als „Geschichtslektionen“ verkauft.

Und warum auch nicht? Künstler verwandeln dröge Quellen in lebendige Tableaus. Aber es ist so eine Sache mit literarischen Geschichtsbildern. Das historische Geschehen mag sich unter dem Bann gewisser Zwänge und Zukunftsvorstellungen zeitweise wie ein Drama ausnehmen, aber in Wirklichkeit folgt es keiner Storyline. Vorherrschende Tendenzen schließen alternative Möglichkeiten nicht aus. Alles kann passieren, alles zählt. Solch ein Durcheinander in eine Erzählung zu transformieren, die den peniblen Wahrheitstests der Wissenschaft standhält, gelingt selbst Historikern kaum. Ohnehin erfassen auch sie nicht das Ganze, sondern treffen eine Auswahl. Auch für sie ist Geschichte lediglich das, was sie an der Vergangenheit interessiert. Für Künstler ist Geschichte aber vor allem das, was sie von der Vergangenheit gebrauchen können, um es in ihre Formvorstellung zu integrieren. Da es ihnen naturgemäß weniger um das Erfassen der Realität als um die Ausgestaltung einer Idee geht, liegt die Gefahr ideologischer Täuschung oder Selbsttäuschung nicht fern. Wenn Kritiker diesen Täuschungen erliegen und unkritisch dazu beitragen, sie in herrschende Meinungen zu überführen, läuft etwas grundlegend falsch. Wer seine Vergangenheit verkennt, wiederholt ihre Fehler.