Aus technikgeschichtlicher Sicht markiert der Erste Weltkrieg den Beginn eines Goldenen Zeitalters. Bereits in den Vorgängerkonflikten hatte sich die Technik zu einem kriegsentscheidenden Faktor entwickelt, aber 1914 brach sich etwas qualitativ Neues Bahn. Wahrscheinlich war der Erste Weltkrieg der erste technologische Krieg der Weltgeschichte. Indem sie sich ganz auf Funktionszusammenhänge konzentrierten, entwickelten Ingenieure Vernichtungsvorrichtungen von beispielloser Effizienz. Aber es ging keineswegs nur um Waffen. Einer der spektakulärsten Erfolge der Weltkriegstechnik war die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zur Ammoniak-Synthese durch Fritz Haber und Carl Bosch. Das grandiose Unternehmen bringt Glanz und Elend der anbrechenden Epoche beispielhaft zum Ausdruck: Zum einen ermöglicht das Verfahren die unbegrenzte industrielle Erzeugung von Kunstdünger aus nichts anderem als Luftstickstoff und Wasserstoff („Brot aus der Luft“), zum anderen erlaubt es die Massenproduktion der für die Munitionsherstellung benötigten Salpetersäure. Den Krieg entschied die Technologie nicht, aber sie zeigte, was Technik von nun an sein würde: Segen und Fluch.
Der Ausdruck „Segen und Fluch“, in dem die kontradiktorischen Gegensätze „Segen“ und „Fluch“ fast im Sinne einer Coincidentia Oppositorum zu einer „höheren“ Wahrheit verschmelzen, dieser antinomische Ausdruck ist im Grunde das theologische Argument par excellence für die ungebremste Technikentwicklung, weil er die Menschen von der Verantwortung für diese Entwicklung entbindet: Verantwortlich ist eine Macht, an die der Mensch nicht heranreicht und für die er nichts kann, weil sie eben überlogisch und damit übermenschlich ist. Wir müssen Technik hinnehmen wie Raum und Zeit. Wir müssen sie genießen wie die Sonne und fürchten wie das Erdbeben. Wir sind ihr ausgeliefert. Sie ist der neue Gott, der die Macht des alten geerbt und um ein Vielfaches vermehrt hat, denn an ihn kann man nicht bloß glauben, man muss an ihn glauben.
Soweit die fatalistische Auslegung der Offenbarung „Technik ist Segen und Fluch“.
Ich möchte diesem fatalistischen Technikverständnis eine Theologie der Freiheit entgegensetzen. Selbst wenn wir dem Gott der Technik zu Willen sein müssten, könnten wir immer noch versuchen, diesen Willen in diese oder jene Richtung zu lenken. Wir könnten versuchen, den Gott der Technik gleichsam an der Nase herumzuführen. Warum nicht? Alle Götter waren Bären bislang. Man konnte sie besänftigen oder erzürnen, eifersüchtig machen oder gnädig stimmen. Man konnte sie austricksen.
Ich muss ja zum Beispiel die Offenbarung nicht fatalistisch auslegen, ich kann sie auch trickreich auslegen. So könnte ich den Segen, der zugleich ein Fluch ist, als verfluchten Segen interpretieren. Die Technik wäre dann zwar ein problematisches Gut, aber ein Gut (so wie der mit Alkohol „vergiftete“ Wein). Interpretierte ich umgekehrt den Fluch, der zugleich ein Segen ist, als segensreichen Fluch, dann wäre die Technik zwar ein vorzügliches Übel, aber ein Übel (so wie der im Wein enthaltene Alkohol). Diese Interpretationen, so scholastisch sie sich auch ausnehmen mögen, bilden tatsächlich die Fundamente zweier unterschiedlicher Kulturen des Umgangs mit Technik. Die „Weinkultur“ wirkt einer unkontrollierten Entwicklung der Technik entgegen, indem sie ihr zerstörerisches Potenzial an allerlei Mythen, Riten und Gesetze bindet und dadurch zugleich sanktioniert und neutralisiert. Die „Alkoholkultur“ schafft ideale Bedingungen für eine explosionsartige Technikentwicklung, weil ihre Anhänger die schädlichen Wirkungen der Technik im Rausch des Ermöglichens gar nicht mehr wahrnehmen.
Technikkultur von Hogwarts
Natürlich ist die Gegenwartskultur besoffen von Technik. Natürlich ist die „Weinkultur“, wenn man in ihr bloß eine Nachzeichnung der verlorenen Handwerkstradition erkennen will, von gestern. Tatsächlich treibt sie aber gerade heute die schönsten Blüten – in der populären Literatur und im Film nämlich. Dort dient sie als Leitbild für die Verfassung phantastischer Welten, zu denen sich merkwürdigerweise zukunftstrunkene Nerds fast noch mehr hingezogen fühlen als romantische Reaktionäre wie ich.
Harry Potter ist vielleicht das beste Beispiel. Wenn man Technik als die Gesamtheit der Mittel und Methoden zur trickreichen Bewältigung praktischer Aufgaben ansieht, dann ist Joanne K. Rowlings Zaubererwelt ein voll technisierter Kosmos – nur dass die Tricks dort eben magischer Natur sind und nicht nach physikalischen Gesetzen funktionieren wie bei uns, den „Muggeln“. Zum ungeheuren Erfolg des Romans hat sicher beigetragen, dass er beide Welten ineinandersetzt. Hinzu kommt die identifikationsstiftende Qualität der Fabel. Nicht zuletzt ist es aber die eigenartig verfasste Zaubererkultur selbst, die der Erzählung einen ganz besonderen Reiz verleiht. Rowlings Zaubererkosmos ist alles andere als dynamisch. Sein kulturell-geistiges Zentrum, die Technische Hochschule Hogwarts, ist ein Hort geheiligter Traditionen. Die im Mittelalter gegründete Institution hat sich seit tausend Jahren kaum verändert. Und nicht nur die Riten und Gebräuche erhielten sich dort bis auf den heutigen Tag, sondern auch das Curriculum: Die Techniken, die auf Hogwarts gelehrt werden, lassen an Wirkungsmacht nichts zu wünschen übrig und bedürfen deshalb keiner Optimierung. In dieser von Traditionen gesättigten Welt gibt es keine historische Entwicklung in unserem Sinne. Tatsächlich erschöpft sich die politische Zauberergeschichte in seltsamen Aufständen, die immer mit der Rückkehr zum Status quo ante enden, weshalb das Ausbildungsfach Geschichte derart stumpfsinnig ist, dass es von einem Professor gelehrt werden kann, der schon vor vielen Jahren während einer seiner sterbenslangweiligen Vorlesungen das Zeitliche segnete und seinen Dienst seither als Geist verrichtet. Skurriler Witz blitzt in Rowlings Erzählung immer dann auf, wenn sie die gemütlich-statische Welt der Zauberer mit der hektisch-dynamischen Welt der Muggel kontrastiert (der Besen und das Flohpulver als charmant-altmodische magische Beförderungstechniken, die verrückte Architektur der Zauberer, ihre antimoderne Wohnkultur und bizarre Kleidermode; die Muggel-Spießigkeit des Schraubenfabrikanten Vernon Dursley; der Technikspleen des technischen Idioten Arthur Weasley).
Dass die Zauberergeschichte keinen Fortschritt und keine Entwicklung kennt, liegt freilich nicht an der lethargischen Natur der Zauberer, sondern am überaus klugen Management ihrer Leidenschaften: Es ist ihnen gelungen, das dynamische Element der Geschichte durch eine kunstvoll austarierte Statik weitgehend zu neutralisieren. Niemand weiß das besser als die überaus kluge Hermine Granger: Immer wieder – und immer vergebens – legt sie ihren Freunden Harry und Ron darum die Lektüre des Kompendiums „Eine Geschichte von Hogwarts“ ans Herz. Obwohl auch wir das Buch nicht kennen, kann man sich denken, worum es darin geht – um bislang gescheiterte (und darum lehrreiche) Versuche nämlich, die Zauberergeschichte durch die Enttabuisierung der „Dunklen Künste“ zu dynamisieren.
Nichts anderes bezweckt Harrys Gegenspieler Lord Voldemort. Er ist der aktuelle Versucher, der die toxischen „Dunklen Künste“ dazu nutzen möchte, die statische „Weinkultur“ der Zauberer endgültig und unwiederruflich in eine dynamische „Alkoholkultur“ zu überführen. Voldemorts Programm ist äußerst verführerisch. Und es ist hochmodern, weil es im Kern mit dem Programm des marktgetriebenen Kapitalismus und Technizismus identisch ist. Hier wie dort geht es um die Ermächtigung einer Elite im Namen der Freiheit aller. Hier wie dort geht es um den Sieg über den Tod, der nur um den Preis der Abtötung von Menschlichkeit zu haben ist. Bekanntlich triumphiert Harry Potter am Ende über Voldemort und sichert sich dadurch ein Ehrenkapitel in „Eine Geschichte von Hogwarts“. Die Zaubererwelt darf bleiben, wie wir sie lieben: skurril, altmodisch und gemütlich.
Die Anderen und ihr Programm
Auf dem Kontinent Westeros, dem Hauptschauplatz von George R.R. Martins monumentalem Epos The Song of Ice and Fire ist die Zivilisation gepägt von der Ewigen Wiederkehr dynastischer Fehden und Kriege. Die blutige Geschichte bringt Helden, Mythen, Lieder und manchmal auch neue Mächte hervor, hemmt jedoch die kulturelle Entwicklung und den technischen Fortschritt. Geschichte auf Westeros ist nicht viel mehr als eine Abfolge von Ritterturnieren, deren Regelkanon sich nur marginal ändert, weil alle Regularien auf das ritterliche Instrument schlechthin, das Schwert, zugeschnitten sind. Es ist wie beim Fußball: Das Personal wechselt, aber der Ball bleibt rund. Auf Westeros bleibt das Schwert das Schwert, Männer bleiben Männer, Frauen bleiben Frauen, und Geschichte bleibt Spiel. In Atem gehalten durch immer neue Tragödien und Triumphe scheint das Publikum niemals die Lust an der Immerwährenden Weltmeisterschaft der Ritter zu verlieren.
Doch liegt auch ein unheimlicher Schatten über dieser verspielten Welt. Er lastet auf der Ritterkultur und gefährdet ihre Statik, ebenso wie die „Dunklen Künste“ die Statik der Zaubererwelt gefährden. Wie Rowling nutzt auch Martin diese Bedrohung als Katalysator der Erzählung. Und wie Rowling identifiziert auch Martin die äußerste Gefahr mit dem absoluten Gift, dem Tod.
Im Kosmos von Ice and Fire tritt er in Gestalt der „Anderen“ auf, die sich hinter einer himmelhohen Schutzmauer im eisigen Norden des Kontinents zum Angriff auf die menschliche Kultur formieren. Die Anderen sind keine Bösewichter, sondern Todesengel. Sie verkörpern keine Idee, sondern ein Prinzip. Sie haben keinen Charakter, sondern eine Funktion. In gewisser Weise sind sie eine Allegorie der technologischen Moderne.
Ein Vergleich mit der Figur Voldemorts mag dies verdeutlichen. Voldemort ist ein Mensch. Und als Mensch verkörpert er den aus Literatur und Geschichte wohlbekannten Typus des unglücklichen Genies, das der Macht des Bösen anheimfällt. Er hat etwas von Faust, von Netschajew, von Hitler. Als brillianter Techniker sieht er im Ganzen immer nur die Summe der Teile. Als einseitiger Propagandist der Reinheit predigt er das Leben und führt den Tod herbei. Er verbreitet Furcht und Schrecken, und doch scheinen in all seinen Missetaten menschliche Motive durch. Voldemort ist einer von uns.
Die Anderen sind anders. Sie haben keine unglückliche Geschichte, sie sind das Unglück. Sie haben keine Botschaft, sondern ein Programm. Ihm folgend verwandeln sie Menschen in Zombies, die als ihre Werkzeuge agieren. Zombies produzieren weitere Zombies, die wiederum Zombies produzieren. Die fleischlichen Automaten sind synthetischen Robotern insofern weit überlegen, als sie nicht kaputt gehen. Selbst abgehauene Gliedmaßen und losgelöste Fleischstücke agieren autonom im Sinne des Programms. Zombies sehen, empfinden und begreifen nichts; ihr Witterungsapparat gleicht dem fühllosen Sensorium einer Drohne, die ihr Ziel nur fixiert und nicht perzipiert. Zombies fixieren lebendige Organismen, um sie in Werkzeuge der absoluten Gier umzuwandeln. Was soll das heißen? Mittel und Zweck fallen in eins im Tun der Zombies: Werkzeuge machen Werkzeuge, Technik dient der Technik, Praxis erschöpft sich in hirnloser Mittelbeschaffung. Die Zombiewelt dreht sich noch, aber es dreht sich in ihr um nichts mehr. Das Zentrum verdampft. Die Form löst sich auf. Die Energie verstrahlt sich. Im allgemeinen Glosen der Entropie endet das gefräßige Geschehen, doch zuvor sättigt es sich an nichts. Und dieses alles zerfressende Treiben nennen wir eben Gier. – Birgt die Natur in ihren Tiefen nicht wirklich die Potenz der Gier? Und entbirgt die Technik nicht gerade diese zerstörerische Macht? Und arbeitet die Technologie durch die permanente Desintegration der Praxis nicht darauf hin, die tödliche Dynamik dieser Macht endgültig und unwiederruflich freizusetzen? Jedenfalls leben wir in gierigen Zeiten. Und wir leben in Zeiten schonungslosen Machens und hirnloser Mittelbeschaffung. Das Programm der Anderen ist also womöglich unser Programm. So gesehen wären wir es selbst, die Anderen.