Da noch zwei Bände von Ice and Fire ausstehen, wissen wir nicht genau, wie George R. R. Martin seine Welt von den Anderen befreien wird. Aber wir ahnen es, denn natürlich hat der Erzähler die helfenden Mächte und heilenden Kräfte längst in Position gebracht. Neuartige Waffen (aus Obsidian) werden bei der Bekämpfung der Anderen eine Rolle spielen. Mächtige Wesen (Drachen) werden ihren Auftritt haben. Doch am Ende wird es wohl der lahme Seher Bran Stark sein, der als Helfer in höchster Not die drohende Niederlage in einen triumphalen Sieg verwandelt …
Und Bran wird ohne Waffen kommen. Den Ausschlag zum Sieg dürften die mysteriösen Kräfte der „Kinder des Waldes“ geben, mit denen der Junge sich verbündet hat: Die Natur selbst wird die Anderen dorthin zurückdrängen, woher sie kamen – ins Eis des absoluten Nullpunkts.Lebendige Natur triumphiert über todbringende Technik: Aus dieser Formel weiß nicht nur George R. R. Martin erzählerische Funken zu schlagen. In J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe besiegen die Hobbits aus dem gemütlichen Auenland den luziferischen Sauron, der im Land Mordor eine vor öder Betriebsamkeit glühende Todesfabrik betreibt. In James Camarons Avatar verjagen die Naturwesen des Planeten Pandora ihre technisch hochgerüsteten Ausbeuter. In Star Wars muss der Imperator der Klon-Krieger und Todessterne sich den mit der natürlichen „Macht“ verbündeten Jedi-Rittern geschlagen geben. In der Matrix-Trilogie geht es um die am Ende erfolgreiche Revolte natürlicher Menschen gegen die infame Bewusstseinsdiktatur der Maschinen. Der endzeitliche Kampf zwischen Natur und Technik scheint ein zentraler Topos des Fantasy-Genres zu sein. Wahrscheinlich ist er konstituierend für die ganze Gattung. Was aber bedeutet das, wenn man sich zudem vor Augen führt, dass es sich bei den genannten Großwerken nicht um hoch subventionierte Kunstgadgets für Bildungseliten handelt, sondern um die wirkungsmächtigsten Märchen unserer Zeit? Es bedeutet, dass so gut wie alle Zeitgenossen eine Ahnung davon haben, was für sie als Menschen derzeit auf dem Spiel steht – ihre Natur nämlich.
Mit Ausnahme vielleicht von ein paar feministischen Philosophen möchte niemand ernsthaft seine animalisch-menschliche Natur verscherbeln. Mit Ausnahme vielleicht von ein paar deutschen Ingenieuren verabscheut alle Welt die denaturierten Landschaften, in denen zu existieren wir gezwungen sind. Andererseits bekennt sich heute nahezu die gesamte Menschheit zum Technizismus als der Ersatzreligion unserer Zeit. Wider besseren Wissens und entgegen allem Instinkt glauben die Menschen fest an die Segnungen ausgerechnet jener Instanz, die sie in Werkzeuge der absoluten Gier verwandelt. Es ist cool, an Technik zu glauben – so cool wie Linton Kwesi Johnsons programmatisches Reality Poem von 1979: „This is the age of science and technology/ But some of us are stopped by antiquity/ This is the age of decision/ So let’s let go of religion.“ Wir opfern die Religion, das Leben, für ein Dasein als coole Zombies. Wie konnte es soweit kommen?
Faschismus als Technokratie
Ein Jahr vorm Ende des Zweiten Weltkriegs warf die englische Wochenzeitung The Observer einen zuversichtlichen und zugleich sorgenvollen Blick in die Zukunft. „Die Hitlers und Himmlers mögen wir loswerden“, hieß es in dem Blatt, „aber die Speers werden noch lange mit uns sein.“ [5] Was Albert Speer selbst anbelangt, hat der Observer bekanntlich schon mal recht behalten: Hitlers Chefarchitekt und Rüstungsminister war „noch lange mit uns“. Der 1946 in Nürnberg zu 20 Jahren Haft verurteilte Kriegsverbrecher konnte nach seiner Freilassung aus dem Spandauer Gefängnis ausgezeichnet von den Tantiemen seiner autobiografischen Bestseller und von den Erlösen aus dem Verkauf einer privaten Raubkunst-Sammlung leben. Erst 1981 starb er in London – als schwer reicher Mann. Ein Künstler und Karrierist aus bestem Hause, ein Bildungsbürger mit Geschmack und Manieren, ein begnadeter Manager, ein genialer Technokrat, ein Macher und Könner, dem die wache Intelligenz ins Gesicht geschrieben steht: Speer galt lange als Gentleman-Nazi, und tatsächlich ist er der einzige führende Repräsentant des Nationalsozialismus, dem man nicht sofort mit Abscheu begegnet. Anders als seine mehr oder weniger tumben Gesellen aus dem engsten Führungskreis des Regimes, in denen wir nichts anderes mehr erkennen können als böse und antiquierte Clowns, scheinen in seiner Persönlichkeit Wesenzüge auf, die ihn als unseren Zeitgenossen kennzeichnen. Es erfordert sehr viel historisches Einfühlungsvermögen, um Hitler und Himmler heute noch zu verstehen; Speer dagegen versteht man ohne jede Schwierigkeit. „Mit uns“ ist er auch und gerade als Verkäufer seiner selbst und vollkommener Kunstmensch, der sein niederträchtiges Ego ein Leben lang mühelos unter jener bürgerlichen Maske zu verbergen wusste, die ihm offenbar alles bedeutete. Kann so jemand etwas Wahres sagen? Warum nicht – wenn es ihm nützt?
Speer hatte sich in Nürnberg zur Verantwortung der ihm zur Last gelegten Verbrechen bekannt. Diese kluge und am Ende erfolgreiche Verteidigungsstrategie krönte er mit einem Schlusswort, das er im August 1946 vor Gericht sprach. Statt ein weiteres Mal auf seine Beteiligung an den Nazi-Verbrechen einzugehen, hielt er, wie Joachim Fest in seiner Speer-Biografie ausführt, „eine Art Kolleg über die verheerenden Folgen der Technik, die den Zustand von Welt und Mensch radikal verändert habe“ [6]. Speer redete nicht nur von Raketen, Atombomben und chemischen Waffen, sondern auch „von den neuartigen Instrumentarien zur psychologischen Versklavung ganzer Bevölkerungen“, von den modernen „polizeilichen Überwachungsmethoden“ und von den „Möglichkeiten der Geheimhaltung verbrecherischer Vorgänge“. Als „der wichtigste Vertreter einer Technokratie, die soeben bedenkenlos und ohne Hemmungen alle ihre Mittel gegen die Menschheit eingesetzt hatte“, wolle er „begreifen, was geschehen war“. Frühere Diktaturen, erklärte er, hätten auf allen Ebenen selbstständig denkende und handelnde Gefolgsleute benötigt. Eine mechanisierte Epoche dagegen fordere und erziehe nur noch den „Typus des kritiklosen Befehlsempfängers“. Er schloss mit den Worten: „Der Alptraum vieler Menschen, dass einmal Völker durch die Technik beherrscht werden könnten – er war im autoritären System Hitlers nahezu verwirklicht. In der Gefahr, von der Technik terrorisiert zu werden, steht heute jeder Staat der Welt, in einer modernen Diktatur scheint mir dies aber unvermeidlich zu sein. Je technischer die Welt wird, umso notwendiger ist als Gegengewicht die Forderung der individuellen Freiheit.“
Zweifellos war Speers Schlusswort eher ein Plädoyer in eigener Sache als ein „Kolleg“. Er beschwor eine Macht, der selbst Täter wie er zum Opfer fallen mussten. Er redete die Technik groß, um seine Schuld klein zu machen. Dennoch müssen uns seine Ausführungen zu denken geben. War die Nazi-Diktatur vor allem eine moderne Technokratie? Gegen solch eine Einschätzung sprechen die atavistischen Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis. Doch andere Aspekte sprechen dafür: die avancierten Techniken der Propaganda und Menschenführung, der Materialbeschaffung und Logistik, der Volksfürsorge und „Volkshygiene“ – am Ende natürlich auch die Technik, die in die Schlucht von Babi Jar, in den Kessel von Stalingrad und auf die Rampe von Auschwitz führt. Die Historiker Götz Aly und Susanne Heim haben die nationalsozialistischen Herrschaftspläne für Osteuropa und die Vernichtung der europäischen Juden als das Resultat einer Expertokratie beschrieben. Auschwitz sei „in hohem Maß die Folge einer gnadenlos instrumentalisierten Vernunft“ gewesen [7]. Auschwitz steht somit nicht nur für das vollständige moralische Versagen eines ideologisch verblendeten Volkes, sondern auch für sein unheimliches technisches Vermögen. Der Name ist ein Zeichen historischer Schmach, aber er ist auch ein Menetekel. Wir neigen heute dazu, den deutschen Faschismus als eine von „antimodernen Ressentiments“ angeheizte Veranstaltung halb debiler Kleinbürger abzutun. Dabei ist er in vielerlei Hinsicht kein abgelebter Gegensatz, sondern eine virulente Spielart der Moderne. Weil er die zur Verfügung stehenden Mittel besonders effizient einzusetzen weiß, wird er „noch lange mit uns sein“.
Chicago Boys und Cybersyn
Solange der Technizismus die Menschheit nicht vollkommen beherrscht, solange es noch humanes Leben jenseits des biotechnischen Funktionierens gibt, muss die Technokratie zur Rechtfertigung ihrer Herrschaft Zwecke vorweisen. Sie muss den Beherrschten glaubhaft machen, dass es ihr um etwas geht. Sie muss für etwas da sein. Aus sich selbst heraus kann sie jedoch keine Ziele, Utopien oder Gesellschaftsentwürfe formulieren, die über die Propaganda der Funktionalität hinausgehen. Weil sie nichts vertritt als nackte Effizienz, braucht sie, um verführerisch zu erscheinen, die ideologische Verkleidung. Nun waren die Ideologen im frühen zwanzigsten Jahrhundert um Große Zwecke nicht verlegen. Es ging um die Herstellung des Übermenschen, des Neuen Menschen, des Sowjetmenschen, des rassisch reinen Menschen, um Weltrevolution, um Diktatur des Proletariats, um Kommunismus als „Sowjetmacht und Elektrifizierung des Landes“ (Lenin), um „Vernichtung des jüdischen Bolschewismus“ (Hitler), um Ausrottung der Kulaken und Liquidierung des Bauerntums, um Beseitigung „nicht lebenswerten Lebens“, um Auslöschung der Juden, Zigeuner und Homosexuellen, um Ausmerzung alles Unbrauchbaren, um Funktionalisierung im Namen der Schönheit, der Wahrheit und des Glücks. Das Große Mittel, das die Ideologen für einige Zeit zum Verstummen brachte, war die Atombombe.
Politische Utopien wurden mit dem Abwurf der Bombe in Hiroshima obsolet. Der Weltgeist des Kalten Krieges war Ökonom und als solcher immun gegen philosophische Spruchweisheiten – dafür aber aufgeschlossen gegenüber Experimenten. Am 6. August 1945 war ja noch längst nicht ausgemacht, welches System die Probleme der Produktion und Verteilung lebensnotwendiger Güter besser lösen würde – die Plan- oder die Marktwirtschaft. Die Frage ließ sich nur experimentell klären, und genau dies geschah in den Jahren bis 1973.
Bis dahin war der Ausgang des Versuchs durchaus offen. Die Sowjetunion hatte in den 50er und 60er Jahren ihre Leistungsfähigkeit mehrfach unter Beweis gestellt. Trotz unvorstellbarer Verluste durch Krieg und Terror war sie schnell zur Atommacht aufgestiegen. Sie hatte die Ära der Raumfahrt mit dem „Sputnik-Schock“ eröffnet. Mit großem Erfolg förderte sie revolutionäre Bewegungen in aller Welt. Weil sie sich auf Lehren stützte, die den Geist der Revolte mit strengster Wissenschaftlichkeit zu verknüpfen schienen, wusste sie junge Intellektuelle auch dann noch für sich einzunehmen, als ihr repressiver Charakter längst offen zu Tage lag. Verloren ging das Spiel deshalb nicht schon 1956 in Budapest oder 1968 in Prag, sondern erst 1973 in Santiago de Chile.
Am 11. September 1973 kam es zu jenem gewaltsamen Putsch, in welchem General Augusto Pinochet den chilenischen Präsidenten Salvador Allende entmachtete und eine Militärdiktatur errichtete, die sich bis 1990 halten konnte. Im Fokus der Öffentlichkeit stand damals die Brutalität, mit der Allendes Versuch, einen humanen und demokratischen Sozialismus zu schaffen, beendet worden war. Die prekäre wirtschaftliche Lage, in die der Sozialist sein Land manövriert hatte, geriet darüber aus dem Blickfeld. Doch „Allende hatte sein Land vollkommen heruntergewirtschaftet“, schreibt Rainer Hank in der FAZ vom 16. 9. 2013 [8]. „Das im August 1973 von der Volksfront hinterlassene Erbe glich einer Konkursmasse. Die Inflation hatte 1973 das galoppierende Rekordtempo von 1000 Prozent erreicht, die Läden waren leer, der Staat und seine Betriebe waren pleite. Allende war zwar demokratisch an die Macht gekommen; die brutale Verstaatlichungswelle nach 1970 hatte indessen auf die Freiheits- und Eigentumsrechte der Menschen keine Rücksicht genommen. Chile war 1973 bettelarm. Der gute Zweck sollte alle Mittel heiligen.“ Die Wirtschaft erholte sich erst, nachdem Pinochet Ökonomen der Universität Chicago um Hilfe gebeten hatte. Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman und seine „Chicago Boys“ verordneten dem Land einen marktwirtschaftlichen Reformkurs, der radikale Privatisierung, Förderung des Unternehmertums, Abbau der Zölle und Öffnung der Märkte einschloss. Friedman rechtfertigte seine Rolle als Berater Pinochets später folgendermaßen: „Trotz meiner tiefen Ablehnung des autoritären politischen Systems in Chile betrachte ich es nicht als böse für einen Ökonomen, der chilenischen Regierung technischen wirtschaftlichen Rat zu geben.“
Die Wende in Chile markierte den Beginn des weltweiten Siegeszuges des marktradikalen Kapitalismus, der die sozialistischen Planwirtschaften am Ende in die Knie zwang. Doch die Geschichte hat eine Pointe. Denn noch etwas nahm damals in Chile seinen Anfang: Mit dem Steuerungsinstrument Cybersyn („Cybernetic Synergy“, auch „sozialistisches Internet“ genannt) hatte die Regierung Allende den ehrgeizigen und in Ansätzen auch erfolgreichen Versuch unternommen, die chilenische Zentralverwaltungswirtschaft in Echtzeit durch Computer zu kontrollieren und effizienter zu gestalten. Die Zukunft gehörte nicht nur dem Marktradikalismus – sie gehörte auch dem informationstechnischen Totalitarismus.
Hedonismus als die letzte Ideologie
Neben Günther Anders war Pier Paolo Pasolini einer der wenigen, die spürten, was vor sich ging. Kein faschistischer Zentralismus habe geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft geschafft habe, schrieb er 1973 im Corriere della Sera [9]. Der (italienische) Faschismus habe zwar ein reaktionäres und monumentales Kulturmodell propagiert, aber dies sei größtenteils „auf dem Papier“ geblieben. Bauern, Subproletarier und Arbeiter hätten sich weiterhin „unbeirrbar an ihren überlieferten Modellen“ orientiert. Heute dagegen sei „der vom Zentrum geforderte Konsens zu den herrschenden Modellen bedingungslos und total.“ Der neue Totalitarismus sei ermöglicht worden durch zwei Revolutionen „im Inneren der bürgerlichen Ordnung“: durch die Revolution der Infrastruktur und die Revolution des Informationswesens. „Mit Hilfe des Fernsehens hat das Zentrum das ganze Land, das historisch außerordentlich vielfältig und reich an originären Kulturen war, seinem Bilde angeglichen. Ein Prozess der Nivellierung hat begonnen, der alles Authentische und Besondere vernichtet.“ Die „neue Industrialisierung“ gebe sich nicht mehr damit zufrieden, dass der Mensch konsumiert, sondern trete mit dem Anspruch auf, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsums geben. Diese Ideologie sei „ein neuer laizistischer Hedonismus, der ahnungslos sämtliche humanistischen Werte vergessen hat und blind ist für jede humane Wissenschaft.“
Es wäre vollkommen idiotisch, gegen Lust, Freude und Genuss zu argumentieren. Darum geht es auch nicht. Hedonismus ist ja kein Gefühl, sondern eine Ideologie. Und da Ideologien stets mit dem Trick operieren, eine ganze Welt von Phänomenen aus einem einzigen Prinzip heraus zu erklären, sind sie nun mal zugleich äußerst attraktiv und grundfalsch. In Wirklichkeit ist Lust nicht gleich Lust, und Leid ist nicht gleich Leid, denn das Drama der Gefühle spielt sich vor einem komplexen, lebendigen Hintergrund ab, der ihnen Charakter und Tönung verleiht. Man muss aus dem Schmerz keine Religion machen, muss Wehmut, Sehnsucht und Trauer nicht zu Symptomen wahrer Tiefe verklären, muss Furcht und Schrecken nicht zu reinigenden Wundermitteln stilisieren, aber kann wirklich irgend jemand ernsthaft daran glauben, dass ein gutes, reiches Leben möglich wäre ohne die genannten, aus Leid und Lust seltsam gemischten Gefühle? Das Helle und eindeutig Positive der Lust verführt zu dem Glauben, sie sei das Licht, dem wir wie Pflanzen unweigerlich entgegenwüchsen, aber dieses Licht ist in Wahrheit doch wohl die Lust und Leid umfassende Liebe [10]. Lust entbindet die Egos, Liebe hält sie zusammen. Ohne Liebe wäre Treue nichts anderes als Pflicht und Pflicht nichts anderes als tote Mechanik. Ohne Liebe wären Familie, Gemeinschaft und Heimat bedeutungslose Konstruktionen. Ohne Liebe wäre das Leben nichts anderes als biotechnisches Funktionieren.