Da das Subjekt auf die durch den technischen Fortschritt immer wieder aufs Neue herbeigeführte Weltfremdheit nicht anders reagieren kann als mit der Erzeugung subjektivistischer Blasen, sieht sich jede Generation seit Beginn der Moderne vor das Problem der seelischen Entsorgung gestellt. Die immer aktuelle, niemals in befriedigender Weise zu beantwortende Frage lautet: Wohin mit dem leidigen Ich? …
Die Romantik hatte es zum „Weltall in uns“ (Novalis) erklärt und dessen Erkundung zum Menschheitsprogramm erhoben. Die Moderne hatte es in pure Rationalität auflösen wollen („Das Ich ist unrettbar“, Ernst Mach). Heute begreift man es als System biotechnisch optimierbarer Funktionen. Man opfert das melancholische Ich für ein hedonistisches Ego.Ein Beispiel für angewandte Biotechnik liefert die Pornoindustrie mit ihren monströsen Katalogen der Lüste.
Der alle Spielarten menschlicher Begierden berücksichtigende Angebotskomplex, wie er sich auf modernen Streaming-Plattformen darbietet, wendet sich zwar nicht an den Intellekt, reizt aber gerade deshalb zum Nachdenken über die zeitgenössische Conditio Humana. Was ist das System „Porno“ eigentlich in unseren Augen? Wegen seiner ausbeuterischen und menschenverachtenden Aspekte sehen wir es nach wie vor als schäbiges Geschäft an, denke ich. Zugleich betrachten wir es mehr und mehr als normales Dienstleistungsgewerbe, als lukratives Businessmodell, als bedeutenden Wirtschaftszweig, als integrativen Teil der Internetkultur, als ästhetisches Phänomen mit inspirierender Wirkung auf Kunst, Mode und Design. Ich begreife es darüber hinaus als Instrument zur biotechnischen Optimierung von Konsumenten.
Den Zugriff aufs Leben verschafft sich Porno zunächst einmal mit den gleichen Marketingtechniken, die auch andere Industrien zur Steigerung ihrer Marktmacht anwenden. Der Chocolatier des Pralinenherstellers nutzt die allgemeine Lust auf Süßes zur Schaffung einer fein differenzierten Angebotspalette, die spezielle Gelüste im Kunden erst weckt und dann befriedigt. Der Pornoproduzent verfährt ganz ähnlich, indem er dem diffus verschlungenen sexuellen Begehren mit einem Spartenprogramm beizukommen versucht, das die als manifest geltenden Neigungen, die es bedient, in Wirklichkeit erst entbirgt. Die Lust am heimlichen Schauen oder am vergötzen Objekt müssen dem Kunden zwar nicht angedichtet werden, beherrschen ihn aber auch nicht in dem Maße, wie es begriffliche Zuschreibungen wie „Voyeur“ oder „Fetischist“ suggerieren.
Sexualität spielt in beinahe alles hinein, zugleich wird ihr durch beinahe alles mitgespielt. Daher sind sexuelle Neigungen variable Größen, die in ein und demselben Individuum extremen Schwankungen unterliegen. Ihr tatsächlicher Wert wird mitbestimmt von Dispositionen, Erfahrungen, Situationen, Atmosphären und vielen weiteren Einflüssen, die mit Sexualität nicht das geringste zu tun haben müssen. Allenfalls der Stil, in dem sich alle diese Elemente zu einer organischen Einheit fügen, ist eine feste Größe. Der Charakter formt das Bild. Einer macht aus einer wilden Bettszene ein beschauliches Memento Mori, ein anderer aus einer heiteren Landschaft ein obszönes Porträt.
Der Charakter spiegelt das Formgesetz des Ganzen Menschen, er ist die Oberfläche seiner Tiefe. Auf diesem uralten humanistischen Grundsatz fußt der Gedanke der Bildung, demzufolge der naturwüchsige Charakter durch pädagogische Kunst zwar nicht verändert, aber kultiviert werden kann und soll. Diesen humanistischen Gedanken machte sich das moderne Bürgertum bekanntlich zu eigen, indem es die Bildung zu seiner vornehmsten Aufgabe erkor. Doch handelte die bürgerliche Gesellschaft – wie ebenso jedes Kind weiß – diesem Ansinnen von Anfang an zuwider, weil sie zur Realisierung ihrer ökonomischen Zwecke nicht den umfassend gebildeten, sondern den einseitig ausgebildeten Menschen brauchte. Der moderne Mensch musste sich zum Manager, Arbeiter oder Ingenieur vereinseitigen, um den gesellschaftlichen Reichtum zu erwirtschaften, mit dem er nie etwas anderes anzufangen wusste, als ihn zu vermehren. Das Midas-Werk des „Fortschritts“ verlangt heute die Spaltung des Individuums in einen technizistischen Produzenten und einen hedonistischen Konsumenten. Damit dieser das Zeug, das von jenem produziert wird, überhaupt wollen kann, ist er angehalten, alle Bindungen an seinen naturwüchsigen Charakter zu lösen, und sich rückhaltlos der Begierde zu überantworten. Im Katalog der Lüste findet er dann zwar keine Befriedigung, aber er entdeckt die Kräfte, die was auch immer in ihm entbergen: den HiFi-Fetischisten, den Gesundheitsfetischisten oder den Strumpfhosenfetischisten – jedenfalls den von der Gier nach Mehr vom Gleichen getriebenen und mithin optimierten Zombie-Konsumenten.
Entbindung ist Befreiung, sagen die Produzenten heute. Es besteht keine Notwendigkeit mehr, mit sich selbst zurechtzukommen. Jeder kann Möglichkeiten ergreifen, die er nicht hat. Dinge ausprobieren, die er nicht erfasst. Wege gehen, die er nicht findet. Freunde treffen, die er nicht kennt. Glück genießen, das ihm nicht widerfährt. Abenteuer erleben, in die er sich nicht stürzt. Wer nicht sein will, der er ist, braucht nur die Tür zu öffnen und in den Raum der Wünsche einzutreten, der alles Andere entbirgt. Das Unmögliche geschieht nicht gegen die Natur, sondern in ihr und mit ihr. Es hat mit technischer Intelligenz zu tun. Mit archimedischen Punkten. Mit Hebeln. Mit Elementarkräften, Logik und Quantenmechanik – nicht jedoch mit dem Himmel, den Landschaften und dem Charakter. Das sind überkommene Anschauungen, sentimentale Anwandlungen. Der Mensch und sein Traum von verfeinerter Natur sind von gestern. Dies ist die Zeit der vernutzen Natur. This is the age of science and technology.
Nächstens mehr.
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[1] Michael Hampe: Baruch de Spinoza – Rationale Selbstbefreiung, in: Klassiker der Philosophie heute, Philipp Reclam jun., Stuttgart, 2004. Hampe bezieht sich auf Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik (VI, 4,1140a) schreibt: „Jeder Hervorbringende bringt sein Erzeugnis für einen bestimmten Zweck hervor, und was er hervorbringt, ist nicht schlechthin Zweck, sondern nur mit Bezug auf ein anderes und für ein anderes. Wohl aber ist die Handlung und ihr Inhalt schlechthin Zweck.“ Das Brot des Bäckers ist nicht für sich selbst da, sondern für etwas anderes, nämlich fürs Essen. Anders gesagt: Die Zweckbestimmung des Brotes ist das Essen. Doch der Zweck des Brotbackens ist das Brotbacken. Ein Bäcker mit praktischer Lebenseinstellung wird das Backen als befriedigende Tätigkeit erleben; ein Bäcker mit technischer Lebenseinstellung dagegen wird das Backen als Last empfinden und bestrebt sein, sich die Arbeit mittels geeigneter Methoden zu erleichtern. Jener arbeitet mit Lust, dieser arbeitet für die Lust. Die stets auf die Mittel fixierte Technik kennt als letzten Zweck nichts anderes als eine vom praktischen Geschehen völlig losgelöste, abstrakte Lust.
[2] Für das schiefe, paradoxale Verhältnis der Technik zur Praxis haben bereits die Griechen ein Gespür gehabt. Hephaistos, ihr Gott der Technik, ist ein missgestalteter, lahmer Mann. Zwar gelingt es ihm, seine Frau Aphrodite und deren Lover Ares in einem fein gesponnen Netz zu fangen, aber alle technische Raffinesse rettet die Ehe nicht. Vielmehr muss Hephaistos auch noch das „homerische Gelächter“ der Götter über sich ergehen lassen.
[3] Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Zweiter Band, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der Dritten Industriellen Revolution, Vorwort, München, 1980
[4] Die Dekadenzform des Gemütlichen Ichs lebt in jenen literaturbeseelten Bildungsbürgern, die weder an der Welt noch an sich selbst leiden, weil sie die innere Leere mit Bücherwänden verstellt und das cartesianische Cogito durch ein vergnügtes „Ich lese, also bin ich“ ersetzt haben.
[5] Zitiert nach Werner Durth: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970. Braunschweig 1988, S. 202.
[6] Joachim Fest: Speer – Eine Biographie, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2001, S. 413 f.
[7] Götz Aly und Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 2013
[8] Rainer Hank vertritt in seinem sehr lesenswerten Artikel „Deshalb sind Liberale nicht mehr links“ eine neoliberale Position. Ob Chiles Wirtschaft im Sommer 1973 wirklich so hoffnungslos zerrüttet war, wie der Autor behauptet, sei dahingestellt. Aber auf eine kritische Bewertung historischer Vorgänge kommt es mir hier nicht an. Es geht um den Hinweis auf die Zäsur in der Wirtschaftsgeschichte: Beide Systeme haben sich damals radikalisiert, und sowohl der Marktradikalismus als auch der Informationsradikalismus beschäftigt uns noch heute.
[9] Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften, Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 3. Auflage 2011, S. 40
[10] Liebe ist kein Erklärungsprinzip, sondern ein Mysterium. Den mysteriösen Charakter der Liebe hat Platon zu erfassen versucht, indem er das Gute auszeichnete als eine noch über dem Kosmos der Ideen stehende, ihn erst erhellende und belebende „überseiende“ Idee. Die wahre Religion sagt schlicht: Gott ist Liebe – und nichts sonst.