Wenn ich etwas Bestimmtes wahrnehme, zum Beispiel einen Stern am Nachthimmel, einen Flötenton in der Stille oder einen leichten Benzingeruch im Auto, dann sind es zwar meistens die vor den jeweiligen Kulissen sich abzeichnenden Figuren, die mich beschäftigen, doch bleiben die Hintergründe für die Deutung des wahrgenommenen Phänomens von Belang. Ob ein Stern am realen Himmel oder auf einer Kinoleinwand leuchtet, macht einen Unterschied. Ob eine Flöte in der Küche oder in einer Kathedrale ertönt, spielt eine Rolle für das Musikerlebnis. Auch beim Benzingeruch entscheidet die situative Konstellation über die Bedeutung des Phänomens: Unterwegs im fahrenden Auto wittere ich womöglich Gefahr, an der Tankstelle halte ich mir bloß die Nase zu.
Die Welt ist im Eindruck anwesend
Wahrnehmung erschöpft sich also nicht darin, interessante Figuren von unbedeutenden Folien abzuziehen. Wahrnehmend habe ich es nicht nur mit subjektiven Erkenntnissen zu tun, sondern auch mit objektiven Eindrücken, nicht nur mit Formen, sondern auch mit Atmosphären, nicht nur mit Elementen, Strukturen und Kontexten, sondern auch mit Hintergründen. Diese weiten Flächen wiederum, auf denen die wahrgenommenen Figuren wie Wellen tanzen, bilden auch nur die obere Schicht dessen, was ich tatsächlich insgesamt sehe, höre, rieche, schmecke und fühle. Das Meer ist tiefer. Und die in die Wahrnehmung eingehenden Empfindungen vermitteln mir eine mehr oder weniger deutliche Ahnung davon. Jeder Fischer spürt, dass er dem Ozean als Ganzem ausgeliefert ist, auch wenn er nur in küstennahen Gewässern auf Fang geht. Jeder Mensch fühlt, dass er es zu jeder Zeit mit der ganzen Welt zu tun hat, auch wenn es derzeit nur ein Zimmerchen sein mag, in dem er sich sehend, hörend, riechend, schmeckend und tastend bewegt. Das Fernste und Tiefste geht uns nahe. Die Welt ist im Eindruck anwesend.
Freilich, was soll das heißen – die Welt? Das Universum, die Natur, das Wirkliche? Der Eindruck sagt mir nicht, was die Welt ist. Von Erkenntnis oder Verständnis kann noch nicht die Rede sein. Allenfalls vom Gefühl eines machtvollen Draußen, in dem ich mich als bewegter Beweger erfahre. Das sensorische Mal dieser Bewegtheit, der Eindruck, zeigt mir das Draußen nicht als eine Landschaft bereits aktualisierter Bedeutungen, sondern als einen Ozean von unerschöpflicher Potentialität und Bedeutsamkeit. Die unentwegt darin auf- und abtauchenden Figurationen verfestigen sich manchmal zu Gegenständen, deren Physiognomie allerdings unspezifisch bleibt, solange ich mich nicht mit ihnen bekannt mache. Es ist diese ozeanische Welt mit ihren mehr oder weniger bekannten Kontinenten, die im Eindruck anwesend ist. Zur Orientierung in diesem schwankenden Kontinuum muss ich mich auf diejenigen Gegenstände fokussieren, die ich bereits so gut kenne, dass ich sie als Instrumente meines Selbsterhalts nutzen kann.
Doch reicht solch eine überlebensnotwendige Strategie nicht hin, um lebendig zu sein. Das Dasein mag aus der rationalen Einstellung zur Welt resultieren, doch es gründet in der existentiellen Einlassung auf die Welt. Darum tue ich gut daran, mich für das Unerwartete offen zu halten, das überall und jederzeit hervortreten kann, um mein Leben zum Guten oder zum Schlechten zu wenden. Ich werde die Welt also auch dann noch im Auge behalten, wenn vor der vieldeutigen Kulisse längst eindeutige Gestalten agieren. Das von der Welt abgezogene Figurentheater stellt historisch vorgeprägte Motive und daraus abgeleitete Zukunftsentwürfe zur Schau. Seine Geschichtlichkeit bedingt seine Erkennbarkeit und Verständlichkeit. Doch die Welt ist nicht das Figurentheater. Sie ist der Ozean, der mir in seiner beeindruckenden Gegenwärtigkeit unendlich viel mehr vor Augen führt, als ich feststellen kann.
Realität und Intentionalität
Nun hat es sich als nützlich erwiesen, die Welt als bloßes Figurentheater anzusehen. Der triumphale Welterfolg von Logik, Dialektik und Rhetorik, von Wissenschaftsbetrieb und Börsenhandel, von Twitter und Tagesthemen zeigt, was sich machen lässt, wenn man das Ganze als funktionalen Zusammenhang mehr oder weniger harter Fakten versteht und organisiert. Dennoch gilt: The map is not the landscape. Wir spüren, dass die Welt größer und geheimnisvoller ist als das von ihr abgezogene System ideologischer Denkfiguren und Designmaximen, in dessen Fängen wir unseren Alltag zu meistern gezwungen sind. Und wenn wir für einen Moment innehielten? Wenn wir uns von der Welt nicht nur beeindrucken, sondern auch verführen ließen? Wenn wir uns in die Physiognomie ihrer Gegenstände vertieften und sie kennen lernten?
Fangen wir einfach irgendwo an – warum nicht bei der hübschen Frau, die dort an der Hauswand lehnt? Gewisse Symbole der Aufmachung und Haltung stempeln sie zur Prostituierten. Es wäre gewiss nicht falsch, die Frau eine Prostituierte zu nennen. Doch naturgemäß ist diese konventionelle Wahrheit alles andere als die ganze Wahrheit. Denn allem Anschein nach ist die Frau nicht bloß eine Prostituierte. Sie ist auch nicht bloß eine Frau. Sie ist schon gar nicht bloß ein Mensch. Allem Anschein nach ist sie jene Einzelne, die dort an der Hauswand lehnt. Was ich damit sagen will: Im abstrakt-sprachlichen Urteil bekunde ich nur meine Weltanschauung, im konkreten Eindruck zeigt sich mir die Welt. Und es ist der im Eindruck aufscheinende Überschuss, der es mir ermöglicht, in jedem Phänomen mehr zu sehen als den begrifflichen Stempel, den ich ihm aufdrücke.
Andererseits ist Wahrnehmung naturgemäß ein zielgerichteter Prozess. Je nach der Absicht, die ich verfolge, sehe ich den Gegenständen diese oder jene Inhalte ab. Ich sehe, was ich vermeine zu sehen. Ich sehe, was ich weiß, glaube, brauche oder begehre. Ich gehe mit apriorischen Anschauungsformen und Verstandesbegriffen, mit akuten Bedürfnissen, mit persönlichen Interessen und Neigungen, mit biologischen und beruflichen Dispositionen, mit kulturell geprägten Sichtweisen an die Dinge heran. Ich habe ein Weltbild. Ich habe etwas Bestimmtes vor. Alle diese Bedingungen fließen in die Wahrnehmung ein und führen dazu, dass der Eindruck, den ich von einem Gegenstand gewinne, so sehr mein subjektiver Eindruck ist, dass die Gegenwart des realen Objekts dahinter zu verschwinden scheint. Aber der Gegenstand ist präsent. Die Welt ist im Eindruck anwesend. Ich habe stets die Möglichkeit, die Frau an der Hauswand kennenzulernen – und zwar nicht nur als die Prostituierte, die sie zu sein scheint, sondern auch als die Person, die sie ist.
Der Eindruck verleiht der Welt einen Sinn und bewahrt zugleich ihren Reichtum. Er hat eine subjektive Seite, deren Bedeutung Idealisten und Konstruktivisten mit einigem Recht hervorheben. Aber er hat auch eine objektive Seite, und diese erfüllt die Bedingung der Möglichkeit einer realistischen Weltsicht. Während die Sprache uns in ein Gehäuse konventioneller Vorstellungen bannt, zeigt uns der Eindruck den Weg ans Licht. So sehe ich es, und so verstehe ich im übrigen auch Platons berühmtes Höhlengleichnis.
Platons Höhlengleichnis
Um zu erklären, was wir bestenfalls zu erkennen vermögen, führt Platon uns erst einmal vor Augen, was wir normalerweise zu erkennen glauben. Dazu versetzt er uns in eine Höhle, in der wir unter ziemlich abstrusen Bedingungen zu leben gezwungen sind. Hinter uns brennt ein Feuer, noch weiter hinten liegt der Höhlenausgang. Wir sind angebunden, können den Kopf nicht wenden und blicken fortwährend auf die Rückwand des Stollens, die als Projektionsfläche dient. Dort verfolgen wir das Schattenspiel der Gegenstände, die vor dem Feuer vorbeigetragen werden. Aufgrund unserer Zwangslage erkennen wir die Welt nur schattenhaft. Den potentiellen »Bildungsgang« der Menschen, den Platon im Anschluss an die Beschreibung der Ausgangssituation schildert, hat der Philosoph Rüdiger Safranski einmal so skizziert: »Könnten wir uns umdrehen, sähen wir die wirklichen Gegenstände und das Feuer. Wären wir gar frei und stiegen aus dem Verlies heraus, kämen wir in die Sonne, dann erst wären wir in der Wahrheit.« In der Wahrheit? Inwiefern kommt das In-der-Sonne-Sein dem In-der-Wahrheit-Sein gleich? Was soll letzteres eigentlich heißen? Und was ist überhaupt ein Gleichnis?
Ein Gleichnis verdeutlicht einen Gedanken im Bild. Damit die Vermittlung funktioniert und der Gedanke »einleuchtet«, muss das Bild nicht nur stimmen, es muss dem Adressaten des Gleichnisses auch etwas bedeuten – was der Fall ist, wenn es seiner alltäglichen Erfahrungswelt entstammt. Gleichnisse glücken eigentlich nur dann, wenn sie das Unbekannte (x) im Bekannten (a) aufscheinen lassen, indem sie Aussagen nach dem Schema x ist wie a formulieren. Die besten Beispiele stammen vielleicht von Jesus von Nazareth: Gott (x) ist wie ein guter Vater (a); die Kirche verbessert (x) die irdische Welt in ähnlicher Weise wie das Salz die Speise verbessert (a).
Mit einem bedeutungsvollen, unmittelbar einleuchtenden Bild wartet auch Platons Höhlengleichnis auf. Dieses Bild ist jedoch keine bestimmte Sache wie das »Salz« und auch keine einzelne lebensweltliche Figur wie der »Vater«, vielmehr ist es die alltägliche Erfahrungswelt als solche – besser gesagt: Es ist die alltägliche Erfahrungswelt der antiken Griechen, nämlich ein sonnendurchflutetes Draußen. In der Sonne Griechenlands zeigen sich die Dinge in einer Klarheit und Deutlichkeit, dass man denken möchte, sie zeigten sich so, wie sie in Wahrheit sind, und man selbst, der inmitten dieser wahren Dinge lebt, existiere sozusagen in der Wahrheit.
Das vor diesem wahrhaft hellen Erfahrungshintergrund gezeichnete Bild des Lebens in der düsteren Höhle muss den Zuhörer zunächst einmal verstören, verlangt es ihm doch die Bereitschaft ab, etwas vollkommen Abstruses als Normalzustand anzusehen. Tatsächlich entwirft Platon ja ein extrem künstliches und damit befremdliches Bild des gewöhnlichen Lebens und trifft damit eine Aussage, die das vertraute Gleichnisschema umkehrt, indem sie das Bekannte b mittels einer Konstruktion y verfremdet. In Wirklichkeit ist unser Leben nicht so unproblematisch, wie es uns erscheint, behauptet der Philosoph. In Wirklichkeit gilt immer schon die Verfremdungsformel b ist wie y, wobei y eine für das menschliche Dasein grundlegende und zwingende Konstruktion zu sein scheint.
Letztlich handelt es sich dabei wohl um die dem natürlichen Leben aufgepfropfte Kulturtechnik schlechthin, nämlich um das zwar erkenntnisstiftende und gemeinschaftsbildende, aber auch Macht begründende, schwarzweiß malende, mythologisierende, lügenträchtige, zwanghafte Sprechen der Sprache.
x = a – y
Die Frage ist nun, was der Philosoph mit dem zweiten Teil des Gleichnisses, in dem er den Aufstieg aus der Sprachspielhölle ins Sonnenlicht schildert, eigentlich aussagen will. Offenbar geht seine Intention dahin, mit dem Höhlengleichnis eine bereits vorher dargelegte Stufentheorie der Erkenntnis zu erläutern. Dieser Absicht gemäß würde für das Draußen die gleichnishafte Relation x ist wie a gelten, wobei x die Erkenntnis der Idee des Guten wäre und die Erfahrungswelt a lediglich die Bildebene des Vergleichs darstellte. Aber ich weiß nicht. Angesichts der Wertschätzung, die Platon der Anschauung, der Einsicht und damit auch dem Eindruck entgegenbringt, könnten die Verhältnisse draußen auch anders gedeutet werden, nämlich im Sinne der Relation x ist wie a ohne y. Die höchste Erkenntnis nicht als endlich begriffene, sondern als anfänglich geschaute Welt, nicht als intellektualistischer Aufschwung zu hehrer Geistigkeit, sondern als mystisches In-der-Wahrheit-Sein.
Idealistische Intellektuelle glauben seit ewigen Zeiten, es seien die Trottel, die in Platons Höhle fest sitzen. Dabei sind sie es selbst, die das Wahre in der Schattenwelt der Begriffe suchen, während es die Unverbildeten wenigstens hin und wieder ans Licht der Tatsachen zieht. Wer seine Augen und Ohren aufmacht, wird die Welt als ein Meer von Wundern und Abgründen betrachten. Wer sich die Welt dagegen als beliebig bespielbare Projektionsfläche denkt, rennt über kurz oder lang mit dem Kopf gegen einen Baum – oder, was sehr viel wahrscheinlicher ist: gegen eine Kerkertür.