Ist die Natur ein Herrschaftsapparat, gegen den man sich zur Wehr setzen muss, wie die Philosophin Judith Butler glaubt? Ist sie identisch mit dem Imperium der modernen Physik? Wie weit müssen wir gehen, um frei zu sein?
Aussehen, Charakter, Geschlecht, Krankheit, Alter, Tod: Es gibt es nichts, mit dem wir uns abfinden müssten. Judith Butler wenigstens scheint es so zu sehen. Für die amerikanische Queer-Theoretikerin ist alles Gegebene ein Gespinst, die Biologie ein Ammenmärchen, die Natur eine Diktatur. Nun hat vermutlich selbst die berühmte Philosophin nichts gegen klares Wasser, frische Luft oder eine schöne Landschaft einzuwenden. In letzter Konsequenz ist es wohl der mechanistische, materialistische Naturbegriff der neuzeitlichen Naturwissenschaft, gegen den sie rebelliert. Die deterministische Natur der klassischen Physik ist eine Diktatur, und die Vorstellung, sich davon emanzipieren zu wollen, ist vielleicht verrückt, zeugt aber auch von einer zutiefst menschlichen Sehnsucht nach Freiheit.
Woher bezieht dieser unbedingte Freiheitsdrang seine Energie? Welche Instanz oder Kraft ist es, die jede Bindung als Fessel ansieht, die es zu sprengen gilt? Meist behilft man sich mit der Vorstellung irgendeines Triebgeschehens oder klebt das Etikett „Begehren“ auf die Black Box mit dem mysteriösen Wirkstoff. Und wenn nun die Instanz der Intellekt und die Kraft das Denken wäre? Ich glaube, Judith Butler sieht es so: Ihre Philosophie scheint bei aller „Postmodernität“ mit dem erzmodernen cartesischen Dualismus von Materie und Geist als einer metaphysischen Grundvorstellung zu operieren. Emanzipation von der Natur bedeutet in dieser Tradition eine Vergeistigung des Lebens (die freie Bestimmung des Geschlechts, die sich in gewissen Sprechakten und politisch-solidarischen Aktionen manifestieren und befestigen mag, ist als Wahl zuallererst ein geistiger Akt).
Die Vorstellung, Geist, Seele und Körper seien klar voneinander geschiedene Substanzen, ist uralt. Fast immer geht mit dieser Vorstellung die Höherbewertung des Geistes und der Seele gegenüber dem Körperlichen einher. Der Dualismus findet einen besonders wirkmächtigen Ausdruck in der platonischen Ideenlehre, geistert aber auch durch die jüdisch-christliche Tradition und fasziniert als gnostische Lehre von der Gefangenschaft der Seele im Körper bis heute. Es ist vermutlich diese „Gefangenschaft“, gegen die Judith Butler anschreibt. Ihr Selbstverständnis dürfte das einer alttestamentarischen Prophetin oder einer gnostischen Priesterin sein.
In der Überbetonung des Geistigen liegt freilich insofern eine große Gefahr, als der Intellekt ein Abstraktionen verarbeitender Apparat ist. Denken operiert mit Begriffen, mit verallgemeinernden Vorstellungen also, die immer nur gewisse Aspekte des Wirklichen erfassen. Der mechanistisch-materialistische Reduktionismus der neuzeitlichen Physik ist ein Beispiel für ein besonders erfolgreiches Programm zur Erfassung und Gestaltung einer solchen Teilwirklichkeit. Dieses Teilreich wird (erweitert um Relativitätstheorie und Quantenmechanik) von der Wissenschaft als das Ganze der Natur ausgegeben, weshalb wir alle es zumeist als das Imperium ansehen, dem wir uns bedingungslos unterwerfen müssen. Die Moderne, deren Verfechter sich so gern als Vorkämpfer der Freiheit stilisieren, fußt eigentlich auf einer Propaganda auswegloser Unterwürfigkeit („Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit“).
Die Kritik des Imperiums bildet zwar das beherrschende Thema der postmodernen Theorien, aber der Ausweg, den ihre Vertreter weisen, scheint außer ihnen selbst kaum jemandem einsichtig zu sein. So ist bislang noch jede als Triumph des Begehrens angekündigte dekonstruktivistische Aktion nichts anderes gewesen als die Machtdemonstration eines weiteren konstruktivistischen (Denk-)Stils. Solche Projekte erschöpfen sich in Scheingefechten gegen das Imperium und stärken es am Ende nur. Zum Beispiel ist es abzusehen, dass Queerness als Lebensform die Entwicklung eines totalitären Konsumismus* eher fördert als hemmt, ganz einfach weil queere Existenz den Raum ausbeutbarer egoistischer und hedonistischer Wünsche erweitert (in ähnlicher Weise wie es Ende der 1960er Jahre bei den Hippies und Anfang der 1980er Jahre bei den etablierten Punks der Fall war).
Wer das Imperium schwächen will, muss ihm den Rücken kehren. Er oder sie muss das Territorium überschreiten und sich in die Natur hinein begeben. Vermutlich führen nur zwei Wege dorthin. Der eine ist die von Jesus gepriesene „geistliche Armut“. Der andere ist die vorbehaltlose Öffnung des Geistes für die ihn selbst tragenden Wirklichkeiten und Wunder der ganzen Natur.
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*Was Konsumismus mit Physik zu tun hat? Vitale Ideologien wie der Konsumismus sind keine von boshaften Kapitalisten verabreichten Opiate, von denen man sich durch ein bisschen Aufklärungsarbeit befreien könnte. Vitale Ideologien sind nicht hinterfragte Glaubensbekenntnisse. Wir glauben kaufen zu müssen, weil wir glauben produzieren zu müssen. Und produzieren müssen wir, weil wir es können. Und wir können es, weil Wissenschaft und Technik uns die Mittel dazu verschaffen. Weil er auf die Kraft und die Herrlichkeit des Imperiums vertraut, versetzt der Marktglaube Berge.